Die Kunst und der „Frauenkram“: Eine Tomaso Binga Ausstellung in Neapel

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Am 15. Juni 1977 fand in der römischen Galerie „Campo D“ eine etwas ungewöhnliche Veranstaltung statt: „Bianca Menna e Tomaso Binga, Oggi Spose“, Bianca Menna und Tomaso Binga, frisch verheiratet, hieß es auf der Einladung, die zwei Schwarz-Weiß-Porträts zeigte: Auf der einen Seite das Bild einer jungen Frau im spitzenverzierten Hochzeitskleid, die sich schüchtern lächelnd an einen Wagen lehnt. Auf der anderen das eines selbstbewusst in die Kamera schauenden Herren mit Hornbrille, Anzug und Krawatte. Er hält Papiere in der Hand, neben ihm steht eine Schreibmaschine, ein Intellektueller, denkt man. Ein Schreiber und seine frisch angetraute Ehefrau. Es bedarf in der Ausstellung „Tomaso Binga. Euforia“ im Museo Madre in Neapel, wo man die Bilder gerade sehen kann, aber schon eines zweiten, vielleicht sogar dritten Blicks, um festzustellen, dass die Kostüme und die Szenerie sich zwar ändern, die beiden Personen aber ein und dieselbe, ein und derselbe sind: Bianca Pucciarelli Menna alias Tomaso Binga.

Die Sprache des Patriarchats unterwandern

Was damals nach einer Hochzeit aussah, war in Wahrheit eine Art Geburt. Die endgültige Verschmelzung von Bianca und Tomaso, der Frau und ihrem männlichen Kunst-Alter-Ego. Seit 1971 stellte die 1931 im süditalienischen Salerno geborene und seit den Fünfzigerjahren in Rom lebende Bianca Menna unter dem männlichen Pseudonym Tomaso Binga (eine Verschränkung des Futuristen Tommaso Marinetti und ihres tatsächlichen Ehemannes, des Kunstkritikers Filiberto Menna) aus, weil sie – zu Recht – glaubte, dass Kunst sich unter einem männlichen Namen besser zeigen und verkaufen lässt.

Nun war sie offenbar bereit, die Transition zu vollenden und mit einer Stimme, der von Tomaso, der von Binga (eine phonetische Abwandlung von Bianca), zu sprechen. Und wenn man so will, geht es in den Arbeiten dieser viel zu lange übersehenen italienischen Künstlerin, der in Neapel zum ersten Mal eine große Retrospektive gewidmet wird, um nichts anderes: darum, seine Stimme zu finden und den Sprachgebrauch des Patriarchats zu unterwandern. So formt sie zum Beispiel in einer ihrer berühmtesten Serien, dem „Alfabetiere Murale“ (1976), das gesamte Alphabet, von A bis Z, mit ihrem nackten Körper nach.

 „Alfabeto Pop/Ape“ von 1977Tomaso Binga: „Alfabeto Pop/Ape“ von 1977Archivio Tomaso Binga/Galleria E

In Neapel ist dieser phantastischen Reihe ein ganzer Raum gewidmet. Das A ist Binga sitzend, von hinten fotografiert, die Arme zur Seite gestützt, das B stellt sie im Schneidersitz dar, nach vorne gebeugt, die Arme zur Seite aufgefächert, für das M spreizt sie stehend die Beine und lässt ihren Oberkörper nach vorne fallen. Neben jedem Bild des Körpers sind die Buchstaben eingezeichnet, in Schwarz und Rot, in Druckschrift und Schönschrift, wie in der Schule.

Das Schweigen brechen

Buchstaben, also das, was unsere Wörter und somit unsere Realität formt, verkörpern, sie mit dem Körper einer Frau performen, so wie es damals auch italienische Künstlerinnen wie Ketty La Rocca taten, bedeutete, dem weiblichen Erlebnis innerhalb der Sprache einen Platz einzuräumen, sich diesen zu erobern: durch das, was Binga „Scrittura Vivente“ nennt, lebendige Schrift, in der sie mit ihrem Körper ganze Worte formt, wo Hände, Beine, Füße selbst zu Sprache werden. Durch Arbeiten wie „Ti scrivo solo la Domenica“ (1977), ich schreibe dir nur sonntags, eine fiktive Korrespondenz, in der sie ein Jahr lang immer sonntags an eine Freundin schrieb, weil Sonntag, „LA domenica“, der „einzige weibliche Tag der Woche“ sei. Aber vor allem durch ihre poetischen Performances, in denen sie das Schweigen der Frauen der Nachkriegszeit bricht und deren Gedanken, Wünsche, Träume aus der Stille der Häuslichkeit befreit, um sie in die Räume der Kunst hinauszutragen.

 „Collage auf Millimeterpapier“, 1973Tomaso Binga: „Collage auf Millimeterpapier“, 1973Archivio Tomaso Binga

Dementsprechend rollt die Stimme der mittlerweile vierundneunzigjährigen Künstlerin in „Euphoria“ aus nahezu allen Ecken auf einen zu, skandiert, hämmert, was dem Ganzen einen fast rituellen, sakralen Charakter verleiht. Sie wiederholt Laute, Worte, immer und immer wieder, so als würde sie versuchen, sie von ihrer Bedeutung zu befreien und das Bewusstsein der Besucher für eine andere Realitätsebene, neue Möglichkeiten der Sprache zu öffnen und vergessen zu lassen, wovon genau sie gerade spricht.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Ein bisschen so, wie sie es in den Neunzigerjahren tat, als sie in der damals sehr populären „Maurizio Constanzo Show“ das Gedicht „La Dieta“, die Diät, vortrug. In dem Video sieht man Binga im adretten Kostüm auf der Bühne stehen und eine Art Diätplan und den darauffolgenden Jo-Jo-Effekt vortragen: „Diät, 8 Monate 68 Kilo, erster Tag, keine Cookies mehr auf meinem Teller, sechs acht sechs acht sechs acht (…), kein himmlisches Brot mehr, sechs sieben sechs sieben sechs sieben (…), keine Party-Dips mehr…“

Im Raum sieht man Männer, die sich entnervt die Hände auf die Stirn legen, die Augen zum Himmel heben, man erahnt ihre Gedanken nur zu gut, was nervt die uns mit ihrem Frauenkram, doch Tomaso Binga schert sich um nichts. Sie spricht weiter, nimmt den Raum mit ihrer Stimme, ihrem Körper, diesen Worten, die vom banalen Alltag, also dem Leben, handeln, ein. Die kanadische Essayistin Anne Carson schrieb in „The Gender of Sound“, die weibliche Stimme sei seit jeher als etwas Grässliches, Monströses dämonisiert worden, als etwas, das das Gleichgewicht der Welt zerstöre. Bianca alias Tomaso hat sich dieser vermeintlich monströsen Kraft angenommen, um die Ordnung, wenn schon nicht umzustoßen, so doch zumindest ins Wanken zu bringen.

„Tomaso Binga. Euforia“ im Museo Madre, Napoli. Verlängert bis 15. September. Der Katalog kostet 45 Euro.

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