Zuckende Tiefesse-Geschöpfe: Fesselnde Erzählungen von Susan Taubes

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Die Erzählungen von Susan Taubes, die jetzt unter dem Titel „Klage um Julia und andere Geschichten“ vorliegen, dringen unmittelbar ins Hirn und in den Leib ein. Sie sind bis heute unerhört, ungehörig. Nichts macht sie anschmiegsam. Sie sind nicht geschmeidig wegzulesen, keinesfalls unter dem Rubrum „Autofiktion“– wenngleich ihre Biographie reichlich Stoff dafür bietet.

Geboren wurde Susan Taubes als Judit Zsuzánna Feldmann am 12. Januar 1928 in Budapest. Ihr Großvater väterlicherseits war Großrabbiner in Budapest; ihr Vater Sándor Feldmann war Psychoanalytiker im Kreis von Sándor Ferenczi, mit dem er sich aber entzweite. Feldmann emigrierte mit seiner Tochter 1939 nach New York, ohne deren Mutter. Sie studierte Philosophie in Harvard, wurde 1956 von dem Existenzphilosophen Paul Tillich mit ihrer Dissertation „The Absent God. A Study of Simone Weil“ promoviert.

Konfliktreiche Ehe und Freitod 1969

Nach der Promotion unterrichtete Susan Taubes zunächst an der Columbia-Universität in New York Religionsgeschichte. Seit 1949 war sie mit dem jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes, von 1966 bis zu seinem Tod 1987 Professor für Judaistik und Hermeneutik an der Freien Universität Berlin, verheiratet, von dem sie sich 1961 trennte; die Scheidung erfolgte erst 1967. Aus der konfliktreichen Ehe gingen ein Sohn und eine Tochter hervor. Am 6. November 1969, im Alter von einundvierzig Jahren, wählte sie vermutlich den Freitod, sie ging in den Atlantik vor Long Island. Das geschah nur wenige Tage nach der Publikation ihres Romans „Divorcing“, in dem eine schmerzhafte Trennungsgeschichte erzählt wird. Seine Wucht blieb unerkannt, erst 2024 nahm das Magazin „The Atlantic“ den Roman in seine Liste „The Great American Novels“ auf, als „wiederentdecktes Meisterwerk“.

Das Ringen um eine eigenständige Identität, zumal als Frau, untergründet Susan Taubes’ gesamtes Schreiben, zerrissen zwischen Psychoanalyse, jüdischer Orthodoxie, wie sie zumal ihr Ehemann verlangte, und Marginalisierung als Intellektuelle.

 „Klage um Julia und andere Geschichten“.Susan Taubes: „Klage um Julia und andere Geschichten“.Friedenauer Presse

In Amerika blieb Taubes’ literarisches Schaffen über mehr als fünfzig Jahre unbeachtet. Zuerst wurde es in Deutschland wahrgenommen, als feministische Literaturforschung seine Bedeutung erkannte. Die erste Biographie über sie von der Literaturwissenschaftlerin Christina Pareigis erschien 2020 im Wallstein Verlag. Bereits 2015 hatte Pareigis „Prosaschriften“, übersetzt von Werner Richter, veröffentlicht, in einer Reihe des Wilhelm Fink Verlags, die von der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel herausgegeben wurde. Diese Publikation, die sämtliche Geschichten des aktuellen Bands (und eine weitere) enthält, bleibt nun leider unerwähnt.

Ein nonbinärer Geist

Die neue Ausgabe, übersetzt von Nadine Miller, entspricht dem Buch „Lament for Julia“, in dem die Texte zum ersten Mal im englischen Original erschienen, veröffentlicht 2023 von der New York Review of Books. Geschrieben hat Taubes die Titelgeschichte wohl bereits 1961, so Francesca Wade im Vorwort, als sie allein in New York lebte und ihre Ehe mit Jacob Taubes am Zerbrechen war. Sie verkehrte damals im Kreis von Susan Sontag; Sontag soll sie ermutigt haben, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Taubes überarbeitete „Lament for Julia“ dann von 1962 an, als sie vorübergehend in Paris lebte; ein Verlag fand sich nicht dafür.

Julia, geborene Klopps, gut situiert verheiratet und Mutter von zwei Kindern, geht an ihrer Existenz zugrunde. Die erzählende Ich-Figur des Romans ist ein nonbinäres körperloses Geistwesen. Weder Schutzengel noch Über-Ich, auch wenn er diese genuin psychoanalytische Funktion immer wieder zu erfüllen versucht, schon gar nicht Gott; am ehesten Signum ihrer gespaltenen Identität zwischen Anpassung und Regelverletzung, wie in der Affäre mit ihrem jungen Liebhaber.

„Julia und Paul Holle sind kein Motiv für ein Porträt“, räsoniert missbilligend das erzählende Ich: „Nur eine Blitzlicht-Kamera oder das Auge des Teufels würde ihre verschlungenen Glieder in so ungehöriger Weise aufdecken. Ich werde sie jener dunklen Welt der Leiber überlassen, die nicht durch das Sehen, sondern durch Liebkosungen entstehen, deren Augen selbst ganz zu Fleisch werden, zuckende, gierig begehrende Tiefseegeschöpfe.“ Die Handlung des Romans, zwischen banaler Bürgerlichkeit und Ausbruch, illus­triert Julias inneren Kampf heillos – bis zur Kapitulation des verquasselten Erzähl-Ich: „Es gab kein Ich. Ich sagte damals nicht Ich, dachte nicht Ich. Es gab nur Julia. Ich in ihr ummantelt. Kein Ich oder sie, nur Julia.“

Keine klassischen Novellen

Susan Taubes schreibt das in harter klarer Sprache, scharfsichtig, manchmal sarkastisch. Es liegt nah, schon bei „Divorcing“ an Ingeborg Bachmanns 1971, zwei Jahre nach Taubes’ Tod, erschienenen Roman „Malina“ zu denken. Der Tod (symbolisch oder real) von Bachmanns namenlosem „Ich“ – die Frau verschwindet in einer Wand ihrer Wohnung – machte den Roman bedeutend im Diskurs um gefährdete weibliche Identität. Auch die neun Kurzgeschichten jenes Bandes entstanden in den Sechzigerjahren. Sie sind womöglich noch kraftvoller als „Klage um Julia“. Taubes schreibt nicht klassische Novellen; im Zeichen der Avantgarde bricht sie auch diese epische Form auf. Und es ist zu simpel, die Erzählungen mit dem Einbrechen des Wahns und dessen Amalgamierung mit der Wirklichkeit (was immer diese sei) abzutun. Es geht um Anatomien der Fragmentierung, gar Auslöschung des (weiblichen) Subjekts, die sie in ihren Texten demonstriert, in den disruptiven Schilderungen. Ihre Komplexität lässt keine säuberliche Interpretation zu; Taubes führt vor, was Dekonstruktion bedeuten kann.

Auch in der eiskalten Erzählung „Schwan“ geht es um eine Vater-Tochter-Konstellation. Sigmund Sigismund ist „Anstaltsleiter“; dorthin begleitet ihn Griselda oft. Als Ventil ihres Traumas notiert das Mädchen obszöne Phantasien auf Zettel vom Rezeptblock des Vaters, die zerrissenen Papierfetzen streut sie in seinem „Haus am Ende der Straße“ aus. Es kommt zu einer Klimax in der Anstalt: „Sie spähte durch die kleine runde Öffnung in jeder Tür, bis sie die letzte Zelle erreicht hatten, wo ein Mann mit ausgebreiteten Armen an der Wand stand, splitternackt, bis auf eine Kapuze über dem Kopf. ‚Ihn‘, sagte sie und starrte unverwandt durch das runde Loch.“ Drei Tage bleibt Griselda in der Zelle, dann ist der Mann tot, „und das Mädchen lag bäuchlings vor ihm auf dem Boden“. Die fesselnde Geschichte bis hin zur Blasphemie folgt nicht realistischer Chronologie, vielmehr einer unheimlichen Traumlogik.

In der Überschreitung der Schranken zwischen Traum und Wirklichkeit insistiert bei Taubes der Surrealismus als ein intellektuelles Kraftfeld. Bis hin zur radikalen Denkfigur der „Transgression“ des französischen Philosophen und Anthropologen Georges Bataille (1897 bis 1962), deren zentrales Kriterium die bewusste Überschreitung einer existenziellen Grenze ist. Radikal absurd exerziert Taubes das in „Der letzte Tanz“: „Der Tod kam zu Mary Ann in der Gestalt eines Liebhabers. Er kam in der Nacht zu ihr und küsste sie im Schlaf. Nacht für Nacht kam er, bis Mary Ann zu ihm sagte: ,Das nächste Mal möchte ich, dass du kommst, wenn ich wach bin. Ich möchte, dass du mich wirklich küsst und mich mitnimmst.‘“ Mary Ann treibt es weit mit dem spielerischen Aufschub des Todes: „,Ich werde mit dir keine weiteren Verabredungen mehr treffen, Mary Ann‘, sagte er. ,Wenn du mich willst, so rufe mich, und ich werde kommen. Warte aber nicht zu lang.‘“ Doch Mary Ann verpasst die Schwelle des Übertritts.

Susan Taubes, dieser so begabten schönen Frau, ist das Überleben nicht gelungen. Doch sie hinterlässt uns ihre aufregenden Geschichten, Schnitte ins Fleisch der patriarchalen Ordnung, Auflehnung fern von Larmoyanz. Sie sind große Literatur.

Susan Taubes: „Klage um Julia und andere Geschichten“. Aus dem Englischen von Nadine Miller. Vorwort von Francesca Wade. Friedenauer Presse, Berlin 2025. 333 S., geb., 28,– €.

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