DFB-Niederlage gegen Portugal: Der Nationalmannschaft fehlt die Tiefe im Kader

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 Wechsel aus der Personalnot geboren

DFB-Spieler Gnabry (l.) und Gosens (r.): Wechsel aus der Personalnot geboren

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Michaela Stache / REUTERS

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Jede Niederlage hat Gewinner. Am Mittwochabend waren es Jamal Musiala, Kai Havertz, Antonio Rüdiger. Die drei bewiesen durch ihre Abwesenheit ihren Wert. Und dass sie in dieser Mannschaft nicht zu ersetzen sind.

Alle drei Stammkräfte fehlten bei der 1:2-Niederlage gegen Portugal verletzt, oder besser rekonvaleszent, und sie legten offen, was dieser Mannschaft, die zuletzt so viel Stärke und Selbstsicherheit ausstrahlte, fehlt: Es ist die Kadertiefe. Ein Kriterium, das gerade bei langen Turnieren wie der WM im kommenden Jahr gebraucht wird.

Portugal wechselte in der zweiten Halbzeit den Champions-League-Sieger Vitinha und den Torschützen Francisco Conceicão ein. Julian Nagelsmann auf der Gegenseite brachte Robin Gosens und Serge Gnabry, zwei Spieler, die der Bundestrainer im Vorjahr bewusst nicht für die EM nominiert hatte – weil sie damals schon nicht mehr den Ansprüchen gerecht wurden, die Nagelsmann und danach auch die Öffentlichkeit an dieses Team anlegten.

Man kann sagen, das sind Wechsel aus der Personalnot geboren, Nagelsmann hat auf der Bank eben keine Champions-League-Sieger sitzen, und man müsse sich eher Sorgen machen, wenn das deutsche Team diese Partie in bester Besetzung verloren hätte.

Der »komplette Bruch«

Dennoch: Die Einwechslungen von Gosens und Gnabry stehen auch dafür, dass diese Nationalmannschaft und ihr Trainer zwar auf dem Weg sind, aber eben auch nicht gegen Rückschläge gefeit – und auch nicht gegen eigene Fehler.

Innenverteidiger Robin Koch, der am Mittwoch noch einer der Besten war, wunderte sich über »den kompletten Bruch«, den das deutsche Spiel nach der eigenen 1:0-Führung erfahren habe.

 Spielfluss zerstört

Die Wechsel des Bundestrainers: Spielfluss zerstört

Foto: Federico Gambarini / dpa

Es war genau der Zeitpunkt, an dem Nagelsmann seine Wechsel vornahm. Kapitän Joshua Kimmich sprach nach dem Spiel davon, er habe nie den Eindruck gehabt, als habe es auf dem Platz »den Willen nach dem 1:2-Rückstand gegeben, das Spiel noch zu drehen«. Ohnehin vermisste er »das Gefühl, dass wir unbedingt ins Finale wollten«.

Zweiter Wechselfehler

Zumal es nun das zweite Mal war, dass der Spielfluss der Mannschaft durch frühe Wechsel in der zweiten Hälfte nicht nur unterbrochen, sondern zerstört wurde. Schon gegen Italien im März sorgten auch die Eingriffe Nagelsmanns dafür, dass aus dem sicheren 3:0-Vorsprung eine 3:3-Zitterpartie ums Weiterkommen wurde.

Wenn man von der Bank nicht die großen Impulse bringen kann, und das kann Nagelsmann angesichts fehlender Optionen hinter der ersten Elf nur begrenzt, dann ist der Automatismus des Wechselns nach 55 oder 60 Minuten offenbar nicht die richtige Maßnahme.

 »Das seit langem schwächste Spiel«

Bundestrainer Nagelsmann: »Das seit langem schwächste Spiel«

Foto: Ronald Wittek / EPA

Damit mutet man den Stammkräften noch mehr Einsatzzeit, noch mehr Verantwortung zu, aber es scheint derzeit der einzig gangbare Weg. Gosens und Gnabry sind jedenfalls keine Alternativen, wenn Nagelsmann ein Spiel noch mal in seinem Sinne in neue Bahnen lenken will.

Gosens und Gnabry – sie können nichts dafür, aber sie stehen für die Flick-Zeit. Nicht für das, was die Nagelsmann-Zeit verkörpern soll.

Dämpfer fürs Selbstbewusstsein

Nagelsmann hat lange keine schlechte Leistung seiner Mannschaft mehr kommentieren müssen, dass sie es war, nämlich schlecht, daraus machte er selbst danach keinen Hehl. Es sei »das seit Langem schwächste Spiel« seines Teams gewesen, sagte er, ohne die »defensive Galligkeit«.

Die zuletzt fast schon wasserdichte Selbstsicherheit rund um die Mannschaft hat jetzt einen Dämpfer erlitten. Das muss nicht schlecht sein, bis zur WM ist noch ein gutes Jahr Zeit. Das für Nagelsmann Besorgniserregende ist allerdings: Die Kaderauswahl ist in der Zeit, in der er Bundestrainer geworden ist, eher kleiner als größer geworden.

 Einer von 17 Nagelsmann-Neulingen

Stürmer Woltemade: Einer von 17 Nagelsmann-Neulingen

Foto: Anna Szilagyi / EPA

Die Altvorderen Toni Kroos, Manuel Neuer und İlkay Gündoğan sind abgetreten, seitdem hat sich keiner in den Vordergrund gespielt, der nicht schon mit ihnen gemeinsam im EM-Aufgebot stand. Ausnahme ist höchstens der Gladbacher Stürmer Tim Kleindienst, der zumindest aus seinen Möglichkeiten das Beste gemacht hat. Auch er fehlte jedoch gegen Portugal verletzt.

Florian Wirtz und Jamal Musiala haben jetzt noch viel mehr die Bürde, das Spiel zu tragen. Man wird abwarten müssen, ob sie das bereits über ein langes WM-Turnier können. Ihre überragende Qualität ist unbestritten.

Nagelsmann hat schon 17 Spieler unter seiner Ägide als Neulinge berufen, er hat viel ausprobiert, letztlich blieb es aber bislang bei den sechs, sieben Leistungsträgern, um die sich alles gruppiert. Der Stuttgarter Nick Woltemade, der bislang letzte Debütant, kam mit großen Vorschusslorbeeren und musste gegen die Portugiesen merken, dass es doch leichter ist, gegen Arminia Bielefeld zu glänzen als gegen Rúben Dias.

Zwei, drei Ausfälle – und es wird eng

Nagelsmanns Vorvorgänger Joachim Löw ist mal scharf kritisiert worden, als er festgestellt hatte, er könne sich eben keinen Linksverteidiger von Rang schnitzen. Es war eine Aussage, die damals gegen den Dortmunder Marcel Schmelzer gerichtet war. Tatsächlich war das menschlich nicht besonders anständig.

Aber Julian Nagelsmann steht vor einem ähnlichen und größeren Dilemma. Hinter seinen Besten besteht eine gewaltige Lücke. Die füllt man nicht eben mal so innerhalb eines Jahres. Der Bundestrainer muss schon darauf setzen, dass seine Besten allesamt fit und in Topverfassung die WM 2026 bestreiten.

Nur zwei, drei Ausfälle – und es wird eng. Das hat der Abend von München nachhaltig bewiesen. Nagelsmann kann sich keine Kadertiefe schnitzen.

Jetzt geht es am Sonntagnachmittag beim Spiel um Platz drei entweder gegen Frankreich oder Spanien. Ein Spiel um Platz drei braucht niemand, die DFB-Elf am wenigsten. Das Risiko, mit der nächsten Niederlage gegen die noch stärker als Portugal einzuschätzenden Teams aus dem Miniturnier herauszugehen, ist relativ hoch.

Dann würde aus dem, was Nagelsmann selbst zur Mini-WM hochstilisiert hat und was der große Motivationsbooster werden sollte, ein möglicherweise nachhaltiger Rückschlag.

 Ein verhageltes Debüt

Kapitän Kimmich (M.): Ein verhageltes Debüt

Foto: Sven Hoppe / dpa

Für Joshua Kimmich war es das 100. Länderspiel, irgendwie sinnbildlich für seine bisherige DFB-Karriere, dass er dieses besondere Jubiläum jetzt wieder negativ in Erinnerung behalten wird. Als Kimmich vor der Partie gefragt wurde, welche seiner bisherigen 99 Länderspiele er besonders vor Augen hat, fielen ihm zwei Niederlagen ein.

Der Kapitän hat nach dem Portugalspiel besonders bemängelt, dass die Mannschaft auch bei den Situationen geschwächelt habe, in denen es keine gehobene fußballerische Qualität brauche: beim Abwehrverhalten, beim Einsatzwillen, beim Verhalten gegen den Ball. Das zumindest kann sie am Sonntag besser machen. Mehr ist mit diesem Kader aber vermutlich nicht drin.

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