Wenn nur die Schiffe, die Tag und Nacht gesegelt waren, um diese Inseln zu finden, Gitarren an Bord gehabt hätten statt Gewehre. Tamburine statt Opiate. Mehr Triangeln, weniger Bibeln.“ Die Wehmut, die in diesen Zeilen anklingt, zieht sich durch die ganze Geschichte. „Auē“ ist ein Wort aus dem Te Reo Māori, der Sprache der indigenen Völker Neuseelands, und bedeutet so viel wie jammern, heulen, ist ein Ausruf, der gleichermaßen Verwunderung und Bedrängnis auszudrücken vermag.
Für die deutsche Übersetzung des Romandebüts von Becky Manawatu wurde der Originaltitel nicht verändert. Glücklicherweise, denn „Auē“ ist das verbindende Element aller Figuren in ihrem Erzähluniversum; ein Schmerz, der alle persönlichen Bedrängnisse transzendiert und zurückreicht bis zu den Schiffen, die 1642 Aotearoa erreichten. Schuldgefühle und brennende Scham, zu lange verinnerlicht, als dass sie sich im Hier und Jetzt einfach vergessen ließen.
Vornehmlich eine Familientragödie
Im Kern ist „Auē“ die Geschichte zweier Māori-Brüder. Als ihre Eltern sterben, lässt Taukiri, ein leidenschaftlicher Surfer und Musiker, aber vor allem eben ein schwer traumatisierter Teenager mit ausgeprägtem Minderwertigkeitskomplex, den achtjährigen Ari bei der Familie seines gewalttätigen Onkels Stu zurück. Es ist eine überstürzte Flucht auf die Nordinsel, in die Stadt, weg vom Meer, seiner Familie und ihrer ganzen verfluchten Vergangenheit, nur um dort den Verlockungen von Alkohol, Drogen und hübschen Mädchen anheimzufallen und es sich wie vor ihm schon sein eigener Vater mit brutalen Māori-Gangs zu verscherzen.

Bis der Krimiplot in Gang kommt, dauert es, aber dann entwickelt die Autorin diesen Teil ihrer Geschichte mit so überzeugender Dringlichkeit, dass es ihr den Ngaio-Marsh-Award für den besten neuseeländischen Kriminalroman des Jahres 2020 einbrachte. Vornehmlich ist „Auē“ aber eine Familientragödie. Jeweils in der ersten Person erzählt die 1982 geborene Manawatu von den getrennten Brüdern. Dazwischen wechselt sie zur Liebesgeschichte zwei junger Māori namens Jade und Toko in der dritten Person und ergänzt gegen Ende das Ensemble der Stimmen noch um weitere kursiv gesetzte Passagen; die Erinnerungen eines Geistes, der mit dem Wind um die Schauplätze seines Lebens streicht.
Ein willkommenes Gegengewicht
Das zu lesen, ist durchaus eine Herausforderung, nicht nur wegen des eingestreuten Māori-Vokabulars, dessen Bedeutung sich nicht immer aus dem Kontext erschließt (ein ausführliches Glossar im hinteren Teil des Buches kann in diesem Punkt Abhilfe schaffen), sondern vor allem, weil nicht immer sofort erkennbar ist, wer gerade spricht und wie genau die Figuren zueinander in Beziehung stehen. Doch es lohnt sich, dem Erzählfluss zu vertrauen, sich ganz in diese Welt hineinfallen zu lassen.
Vor allem die Kapitel aus Aris Sicht sind eine Perle empathischer Erzählkunst, wie Manawatu den kindlichen Tonfall trifft, der sich mit beeindruckender Beobachtungsgabe, aber auch unverfälschter Neugier versucht einen Reim auf die Zwänge der Erwachsenen zu machen. Aris beste Freundin ist die Nachbarstochter Beth, eine Art Pippi Langstrumpf aus dem neuseeländischen Busch, die die scheinbaren Gegensätze eines rosafarbenen Kinderzimmers und einer frühreifen Vorliebe für Quentin Tarantinos „Django Unchained“ glaubhaft ineinander vereint. Ihr unbekümmerter Schalk ist ein willkommenes Gegengewicht zur Schwere, die alles und jeden in „Auē“ früher oder später einholt.
Alles andere als eine Abrechnung
Wenn es so weit ist, entfaltet wiederum die sprachliche Poesie ihre ganze Kraft, greift mit Vorliebe auf die Bilderwelten der māorischen Mythologie zurück. „Regen schnitt durch den warmen Morgen, kam in einer Welle, als hätte man das Meer emporgehoben, um es mit Macht über der brennenden Erde auszukippen“, heißt es, und dann phantasiert Taukiri unter Drogen davon, dass sich sein Surfboard in eine Finne verwandelt, auf der er durch die Stadt gleitet. Irgendwann klingt der Rausch ab, Sonne und Meer finden ihr Gleichgewicht wieder.
Die Naturgewalten, Wettererscheinungen, Meereswogen, gierigen Vogelschwärme erscheinen wie rachsüchtige Götter einer Welt, in der Frauen, Kinder und Männer unter der Gewalttätigkeit einiger weniger leiden, die Baseballschläger haben, „mit denen sie kein Baseball spielten, Brecheisen, die sie nicht dazu benutzten, etwas aufzubrechen. Gaffs, mit denen sie keine Söhne zum Aalefangen mitnahmen. Hände, um sie zu Fäusten zu ballen. Stiefel, um mit ihnen zuzutreten.“ In Neuseeland selbst wurde diese Gewaltdarstellung zum Kritikpunkt, an dem hitzige Debatten entbrannten. Sie zementiere Stereotypen, warfen einige Kritiker der Autorin vor.
Becky Manawatu ist selbst Māori mit Gewalterfahrungen in der Familie, ihr Debüt ist ihrem Cousin gewidmet, der im Alter von zehn Jahren von seinem Stiefvater ermordet wurde. Aber „Auē“ ist alles andere als eine Abrechnung, vielmehr versucht die Autorin darin zu ergründen, was ihre Figuren zum Äußersten treibt. Sie porträtiert eine in sich diverse Community, deren Alltag noch immer von rassistischen Mikroaggressionen und struktureller Benachteiligung geprägt ist, nimmt all ihre Wut und Trauer und verwandelt sie in eine Geschichte, die wie die Mythen, auf die sie sich bezieht, das Potential hat, Generationen zu überdauern.
Becky Manawatu: „Auē“. Roman. Aus dem Englischen von Jana Grohnert. Hrsg. von Renate Möhrmann. Kröner Verlag, Stuttgart 2025. 460 S., geb., 25,– €.