Der „Gnomon“ in der NS-Zeit: Wider das humanistische Bildungsideal

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Wer ein Jubiläum feiert, blickt auf die eigene Geschichte zurück. Wenn diese Geschichte sich in Deutschland abgespielt hat und schon etwas weiter in die Vergangenheit zurückreicht, gehört zu ihr meist auch ein dunkles Kapitel zwischen 1933 und 1945. Manch eine Institution nimmt ihr Jubiläum deshalb zum Anlass, dieses Kapitel aufarbeiten zu lassen – was von Mut zur Selbstreflexion zeugt, mittlerweile freilich auch leichter fällt, da selbst die Nachfolger der damals Verantwortlichen in der Regel gestorben sind.

So tat es 2013 der C. H. Beck Verlag und ließ zu seinem 250-jährigen Bestehen gleich zwei umfangreiche Monographien erscheinen, in denen der Epoche des Nationalsozialismus besondere Bedeutung zukommt. Und so tut es nun der „Gnomon“, eine der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften dieses Verlags: Pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum hat der Gräzist Markus Hafner auf Anregung der Redaktion eine Geschichte des Journals im Nationalsozialismus erarbeitet und beim Festakt in Bonn vorgestellt.

 „Die deutsche Altertumswissenschaft in der NS-Zeit“. Der Gnomon von seiner Gründung 1925 bis 1949.Markus Hafner: „Die deutsche Altertumswissenschaft in der NS-Zeit“. Der Gnomon von seiner Gründung 1925 bis 1949.C.H. Beck

Der „Gnomon“ unterscheidet sich von allen anderen altertumswissenschaftlichen Publikationen in Deutschland dadurch, dass er ausschließlich Buchbesprechungen veröffentlicht. Sein nach wie vor großes Renommee leitet sich nicht zuletzt von seiner Geschichte ab: Hinter seiner Gründung 1925 stand mit Werner Jaeger der Spiritus Rector der Altertumswissenschaften in den Zwanzigerjahren, der bedeutende Fachkollegen wie den Philologen Karl Reinhardt oder den Archäologen Ludwig Curtius um sich versammelte. Welche Richtung die damals achtmal im Jahr erscheinende Zeitschrift nach 1933 nahm, war bislang dagegen kaum bekannt. Auf dünner Quellenbasis wurde gelegentlich angenommen, der verantwortliche Redakteur Richard Harder habe „den ,Gnomon‘ von nationalsozialistischer Einflussnahme weitgehend frei gehalten“ (Gerhard Schott).

Brisanter Quellenfund

Mit diesem Urteil räumt Markus Hafner gründlich auf. Dabei profitiert er vor allem vom Fund „brisanten, (...) bislang verschollen geglaubten Materials“, wie er im Vorwort erläutert. Worum es sich bei diesem Material handelt, wird leider erst auf Nachfrage beim Autor klar: Im Nachlass des 2017 verstorbenen klassischen Philologen und ehemaligen „Gnomon“-Schriftleiters Ernst Vogt entdeckte er die Korrespondenzen früherer Herausgeber, deren Existenz Vogt zu Lebzeiten offenbar bestritten hatte.

Anhand dieser Briefwechsel kann Hafner, nach kurzen biographischen Abrissen zu den „Vätern“ der Zeitschrift, vor allem einen Vorgang beleuchten, der bislang kaum Beachtung gefunden hatte: Waren im letzten Heft 1933 noch sechzehn Herausgeber verzeichnet gewesen, so sind es von 1934 an plötzlich nur noch deren drei. Was auf den ersten Blick nach einer rein organisatorischen Veränderung aussieht, entpuppt sich bei Hafner als eminent politischer Vorgang. Denn dem Herausgebergremium gehörten ursprünglich mit dem Direktor der Schulpforta Walther Kranz, der mit einer Jüdin verheiratet war, und dem klassischen Philologen Eduard Fraenkel, der selbst Jude war, auch zwei Personen an, die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter besonderer Beobachtung standen und zunehmend vom gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leben ausgeschlossen wurden.

 der Archäologe Ludwig Curtius in den DreißigerjahrenTrat aus Protest gegen die neue Linie zurück: der Archäologe Ludwig Curtius in den Dreißigerjahrenpicture alliance / SZ Photo

So auch im „Gnomon“. Schon im September 1933 schreibt Richard Harder als verantwortlicher Redakteur an seinen Freund Wolfgang Schadewaldt (der selbst nicht zu den Herausgebern gehört), er „fürchte“, sie würden „die beiden Herren heraustun müssen“. Die Furcht ist für den Gräzisten und Jaeger-Schüler Harder wohl nur eine rhetorische Floskel: Im selben Brief regt er auch die Einführung des „Führerprinzips“ auf Fachtagungen an, berichtet, wie er seine Studenten zum Eintritt in die SA bewegt habe, und zeigt sich erleichtert, dass nicht noch mehr „jüdische“ Herausgeber zu entfernen seien: „Glücklicherweise haben wir, übrigens durchaus bewusst, damals bei der Auswahl des Herausgeberstabes ein wenig antisemitisch verfahren, sodass ausser Kranz nur noch Fraenkel infrage kommt.“

Das Problem für Richard Harder und seine Mitstreiter: Fraenkel möchte seinen Posten nicht freiwillig räumen. Weil zudem immerhin ein gutes Drittel der übrigen Herausgeber Fraenkel unterstützt und mit Rücktritt droht, darunter die ­besagten Koryphäen Reinhardt und Curtius, verfällt Harder auf die Idee, den Ausschluss der „Nicht-Arier“ durch eine allgemeine Um­bildung des Heraus­geber­gremiums zu kaschieren. Eine ­solche Schleiertaktik scheint ihm gerade mit Blick auf das Ausland geboten, wo dreißig Prozent der Abonnenten sitzen. ­Harder hat Erfolg und der „Gnomon“ von 1934 an nur noch drei Herausgeber, die dem Nationalsozialismus mindestens aufgeschlossen gegenüberstehen: Neben Harder selbst sind dies der Archäologe Gerhart Rodenwaldt und der Althistoriker Matthias Gelzer.

Hätte breit waren die Handlungsspielräume?

Hafner stellt diese bislang unbekannten Vorgänge anschaulich dar, behandelt zudem den weitgehenden Ausschluss jüdischer Rezensenten und schließt mit der Neugründung der Zeitschrift 1949, die mit einem Verlagswechsel von Weidmann zu Biederstein beziehungsweise C. H. Beck einherging. Auch dank der im Anhang dokumentierten Briefe und der ansprechenden grafischen Gestaltung dürfte sein Buch zu einem Referenzwerk in der altertumswissenschaftlichen Wissenschaftsgeschichte werden.

Was aber sagen Hafners Ergebnisse über „die deutsche Altertumswissenschaft in der NS-Zeit“ allgemein aus? Um ihrem bedeutungsschweren Titel gerecht zu werden, hätte die Fallstudie größerer Kontextualisierung bedurft. Wie breit waren etwa die Handlungsspielräume der Herausgeber, nachdem das am 4. Oktober 1933 verabschiedete „Schriftleitergesetz“ das Recht auf Veröffentlichung in Deutschland auf Menschen mit „Ariernachweis“ beschränkt hatte? Wie verfuhren andere Zeitschriften oder Institutionen in ähnlichen Situationen? Und waren für die Altertumswissenschaft insgesamt eher die dem Nationalsozialismus gewogenen Harder, Rodenwaldt und Gelzer charakteristisch oder ihre Widersacher im „Gnomon“, die Ende 1933 durchaus zahlreich waren, jedoch ihrerseits das Feld räumten, anstatt die offene Auseinandersetzung zu suchen? Manches dazu kann man anderswo nachlesen, aber Hafner setzt es nicht zu seinen Recherchen in Beziehung.

Die stärkste übergreifende Botschaft mag man in den Zitaten suchen, die dem Buch vorangestellt sind. Dort kontrastiert Hafner einen Ausspruch Wolfgang Schadewaldts von 1959, wonach „das humanistische Bildungsideal (. . .) die Erziehung des Menschen zum Menschen“ im Auge habe, mit einem Satz Harders von 1934, wonach „menschliche Rücksichten und Empfindungen letzten Endes die Haltung einer Zeitschrift nicht bestimmen“ könnten. Dass einige Altertumswissenschaftler das humanistische Bildungsideal nach 1933 bereitwillig aufgaben und verrieten – das ist zwar keine gänzlich neue, doch eine ebenso erschreckende wie eindrückliche Erkenntnis dieser Studie.

Markus Hafner: „Die deutsche Altertumswissenschaft in der NS-Zeit“. Der Gnomon von seiner Gründung 1925 bis 1949. C. H. Beck Verlag, München 2025. 224 S., geb., 78,– €.

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