Ein „schlechter Jude“ sei er in den Augen vieler Leute, so scherzte Jon Stewart kürzlich in seiner Talkshow. Doch er müsse seine Stimme erheben gegen das, was in Gaza geschehe: „Ich weiß, was ich sehe“, sagte der Moderator. Sein Gast war Peter Beinart, der frühere Chefredakteur der „New Republic“ und langjährige Redakteur der Zeitschrift „Jewish Currents“. Beinart gehört zu den bekanntesten Stimmen der amerikanischen Linken gegen das Vorgehen Israels im Gazastreifen.
In vielen Artikeln unter anderem für die „New York Times“ begründete er, warum er kein Zionist mehr sei. Beinart ist in einer Außenseiterposition, die jetzt aber immer mehr Gehör findet, auch in der Mitte, auch da, wo sich Liberale ums virtuelle Lagerfeuer der Fernsehwitze scharen. Beinart und Stewart wurden mit viel Applaus bedacht, als sie ausloteten, was es heiße, heute in Amerika jüdisch und gegen den Krieg in Gaza zu sein.
Auch die liberale jüdische Mitte bezieht Stellung
Linke wie Beinart kritisieren die israelische Politik schon seit langer Zeit. Den Krieg gegen die Hamas nennen etliche von ihnen einen Genozid an den Palästinensern, der Begriff Apartheid für das Westjordanland ist verbreitet. Viele engagieren sich in Organisationen wie „If Not Now“ und „Jewish Voice for Peace“.
Manche bezeichnen sich als Anti- oder Postzionisten und berufen sich damit auf eine Strömung, die in der amerikanischen Linken älter ist als der Staat Israel. Oft wurde ihnen ihre Religion und Kultur abgesprochen, oder sie wurden als von der Sowjetunion gesteuert gebrandmarkt, wie es der Literaturwissenschaftler Benjamin Balthaser in seinem kürzlich erschienenen Buch „Citizens of the Whole World“ beschreibt.

Neu ist, dass auch die liberale jüdische Mitte in Amerika deutlicher Position bezieht, dass nicht nur bekannte Vertreter der Linken die israelische Politik, die Besatzung und die politische Verfasstheit des Staates grundsätzlich kritisieren. Erklärungen von Organisationen wie der „Union for Reform Judaism“ zum Hunger in Gaza zeigen das, und für ein großes Publikum wurde es sichtbar, als Stewart Beinart seine Bühne bot.
Es sei falsch, Israel weiter mit Waffen zu versorgen
Stewart ist schon lange ein kultureller Held der Liberalen, belächelt von manchen Linken, aber verehrt von vielen Anhängern der Demokraten. In den vergangenen Jahren wurde er manchmal dafür kritisiert, dass er eine moderate Position zur israelischen Politik einnahm, obwohl er die rechte Regierung unter Benjamin Netanjahu schon öfter ins Visier nahm.
Inzwischen werde er, Stewart, regelmäßig dafür angegriffen, dass er nicht an der Seite der momentanen israelischen Regierung stehe und sich stattdessen frage, „was passiert, wenn aus David Goliath wird“, sagte der Gastgeber in der Sendung. Mittlerweile fühle er sich „wie ein Verrückter“, wenn ihm andere Leute sagten, er solle den Mund halten, weil er sonst dazu beitrage, dass Israels Zukunft gefährdet sei.

Beinart sprach über sein neues Buch, „Being Jewish after the Destruction of Gaza“ („Jude sein nach der Zerstörung von Gaza“). Um den Menschen aus seiner und vielen anderen Familien gerecht zu werden, die im Holocaust ermordet wurden, müsse man sich heute gegen die Kriegsverbrechen Israels in Gaza engagieren, sagte der Journalist.
Den Palästinensern würden schon lange fundamentale Rechte verweigert und es sei „im Interesse unserer Ehre“, darüber nicht zu schweigen, so Beinart. Stewart fragte mehrmals, von Applaus unterbrochen, warum die Weltgemeinschaft nichts gegen die israelische Regierung unternehme. Beide waren sich einig, dass es falsch sei, Israel weiter mit Waffen zu versorgen – so denken inzwischen laut Umfragen mehr als 70 Prozent der Wähler der Demokraten.
Auch Publizist Ezra Klein kritisiert Israel
Das steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Beteuerungen vieler Politiker der Demokraten, die an ihrer Sorge um die Existenz Israels keinen Zweifel zulassen wollen. Auch Stewart konnte diese Spannung für sich nicht auflösen: Er sei aufrichtig besorgt um die Sicherheit Israels. Beinart bot die Deutung an, dass Israel durch das aggressive Vorgehen gegen die Palästinenser nicht sicherer, sondern gefährdeter sei.
Und letztlich erlebten amerikanische Juden ein Dilemma: Ihre eigene Sicherheit, ihr Leben als Amerikaner habe darauf beruht, dass in diesem Land alle Menschen gleich behandelt würden – gleichzeitig müssten sie sich fragen, warum sie in Übersee einen Staat unterstützten, der das nicht tue, sagte Beinart.
Unter amerikanischen Linken, Juden wie Nichtjuden, ist diese Position schon länger verbreitet. Dass sie auch unter jüdischen Amerikanern an Zustimmung gewinnt, die nicht als Links-außen bekannt sind, zeigte kürzlich ein Essay von Ezra Klein, einem weiteren Publizisten, den man eher den liberalen Zentristen in der Demokratischen Partei zuordnet. Klein, prominentes Gesicht der „New York Times“, schrieb über den Artikel in seiner Zeitung: „Warum amerikanische Juden einander nicht mehr verstehen“.

Anlässlich des Sieges von Zohran Mamdani bei der Vorwahl der New Yorker Demokraten um das Bürgermeisteramt bestätigte er den Eindruck, dass zwar viele ältere Juden in der Stadt Vorbehalte gegen den muslimischen Politiker hätten, gerade Jüngere aber häufig begeistert von Mamdani seien.
Das Wort „Genozid“ wird immer breiter akzeptiert
Eine neue Umfrage sieht Mamdani unter denjenigen New Yorker Juden, die einen Demokraten wählen wollen, weit vor der Konkurrenz. Das hänge, so Klein, auch mit einer zunehmenden politischen Entfremdung – oder Neuorientierung – jüngerer Juden in Amerika zusammen. Diese wenden sich laut Umfragen immer mehr von bedingungsloser Unterstützung Israels sowie von alteingesessenen Interessenvertretungen wie der ADL (Anti-Defamation League) ab.
Diese jüngeren Leute hätten keine Angst vor Mamdani, schrieb Klein, aber sehr viel Angst vor „einer Zukunft, in der Israel ein Apartheidstaat ist, der über die Ruinen Gazas und über Splittergruppen in der West Bank herrscht“. Sie hätten Angst bei dem Gedanken, was das für antisemitische Gewalt überall auf der Welt und auch für ihre eigene Identität als Juden bedeute. „Ihre Bindung an klassische Ideale des Liberalismus ist stärker als ihre Bindung an das, was aus Israel geworden ist“, schrieb Klein. Für Juden in der Diaspora sei die multiethnische Demokratie, die ihre Minderheiten schützt, das Fundament ihrer Sicherheit, in Israel wiederum sei es die jüdische Mehrheit und Dominanz.
Viele Menschen hätten vor einem Jahr noch abgewunken, wenn für Israels Vorgehen in Gaza das Wort „Genozid“ gefallen sei – nun werde es in immer weiteren Kreisen akzeptiert, auch unter Juden, stellt Klein fest. Liberale amerikanische Juden hätten ihre Loyalität zu Israel stets mit dem Verweis auf eine Zweistaatenlösung rechtfertigen können, ein hoffnungsvolles Irgendwann, das nun zerstört sei.
Angesichts der übermächtigen Dominanz der Nuklearmacht Israel gehe es schon lange nicht mehr um deren Existenzrecht. Die Frage sei nicht, ob Israel existieren dürfe, sondern ob es dominieren dürfe. Jahrzehntelang seien Zionismus und Liberalismus für amerikanische Juden verknüpft gewesen – doch was passiere, wenn beide nicht mehr vereinbar seien? Mit dieser Frage entließ Klein seine Leser.
Eine strategische Herausforderung für die Demokraten
Die Gedanken sind nicht neu – siehe Beinart, den Klein zitiert –, doch seine Plattform ist ungleich größer. Kleins Podcast für die „New York Times“ ist einer der wichtigsten der liberalen Medienwelt, seine Beiträge zur Strategiedebatte der Demokraten, zuletzt mit dem Buch „Abundance“ („Fülle“), einem Plädoyer für Innovationen und Investitionen, werden in der Partei breit diskutiert. Die Frage, wie man mit Israels Regierung angesichts der Lage in Gaza umgehen soll, ist nicht erst seit der Niederlage von Kamala Harris eine strategische Herausforderung für die Partei.
Nur sieben Prozent ihrer Anhänger befürworten in einer aktuellen Gallup-Umfrage noch Israels Vorgehen in Gaza. Vorige Woche stimmte eine Mehrheit der Demokraten im Senat für zwei Resolutionen des linken Senators Bernie Sanders, die zwar keine Chance, aber doch Signalwirkung hatten: Zum ersten Mal in der Geschichte wollte die Mehrheit der Senatsgruppe Waffenlieferungen nach Israel, namentlich von Gewehren und Bomben, aussetzen. Mehr als zehn demokratische Senatoren, die sich einer solchen Maßnahme bislang verweigert hatten, stimmten mit – ein weiteres Zeichen dafür, dass die amerikanische Kritik am Vorgehen der Regierung Netanjahu breiter wird.
Sanders indessen, der selbst Jude ist und der pauschale Antisemitismusvorwürfe gegen propalästinensische Aktivisten immer wieder kritisiert, ist seit dem 7. Oktober 2023 manches Mal selbst zum Ziel von Anfeindungen als „Zionist“, gemeint als Schimpfwort, geworden. Im Gegensatz zu vielen anderen Linken, die sich Antizionisten und Israel nur „the Zionist entity“ (das zionistische Gebilde) nennen, will Sanders Israel nicht abschaffen, sondern zum Friedensprozess zurückfinden. Damit gerät er in manchen linken Kreisen heute schon ins Abseits.