Die Meisterschaft ist perfekt, der Aufstieg noch nicht. Lok Leipzig krönte sich am Sonntag zum Nordost-König. In den Aufstiegsspielen gegen den TSV Havelse gilt es nun, die Schleife um eine Ausnahme-Saison zu binden.
Nun ist es also vollbracht - das "Kollektiv der Sehnsüchtigen" aus Leipzig Probstheida hat die Meisterschaft in der Regionalliga-Nordost dingfest gemacht. Dafür musste der 1. FC Lokomotive bis zum allerletzten Spieltag warten: Das 4:2 bei Rot-Weiß Erfurt reichte.
Der blau-gelbe Erfolg, der am Ende doch noch zu einer kleinen Zitterpartie wurde, hat viele Gesichter, der ganze Verein definiert sich sowohl auf als auch neben dem Platz als eingeschworenes Kollektiv. Nun darf und soll gefeiert werden, auch wenn die leidigen Aufstiegsspiele, das dickste zu bohrende Brett, am Horizont warten. Der schlafende Riese aus Leipzig steht vor dem größten Erweckungserlebnis der jüngeren Vereinsgeschichte.
Dem großen Ganzen untergeordnet
Als Jochen Seitz (48), gebürtiger Erlenbacher und ehemaliger Bundesliga-Profi (u.A. Stuttgart, Schalke, Kaiserslautern) den Trainingsauftakt im Bruno-Plache-Stadion am 17. Juni 2024 hinter sich gebracht hatte, fiel am Rande die Bemerkung: "Wer weiß, was passieren kann, wenn wir die ersten Spiele gewinnen - dann könnte ein Stein ins Rollen kommen." Dass angesichts der Lawine, die Lok Leipzig über die nun ziemlich genau 10 Monate seither losgetreten hat, die Bergwacht einschreiten muss - niemand konnte es ahnen. Dereinst war sicher der Wunsch Vater des Gedankens, heuer steht man als Meister fest, zudem spielt man am 24. Mai das Finale des Landespokals daheim gegen Erzgebirge Aue.
Seitz, Siebeck, Ziane, Wilton, Maderer, Eichinger, Wachsmuth - nur einige der Getriebenen, die sich in Leipzig zunächst zu einer Zweck-WG zusammen gefunden haben, schon bald wurden sie Brüder im Geiste. Die persönlichen Rückschläge und Enttäuschungen der Vergangenheit ließen Ambitionen schon bald kongruent verlaufen, entsprechend ausgeprägt war die Bereitschaft, sich dem großen Ganzen unterzuordnen.
Alexander Siebeck, der mit dem BFC Dynamo vor drei Jahren kurz vor den Toren zum gelobten Land der dritten Liga scheiterte und im letzten Sommer zu seinem Jugendklub nach Probstheida zurückkehrte, zeichnet eine emotionale Reise durch die sagenhafte blau-gelbe Spielzeit: "Jede Meisterschaft hat einen unglaublich hohen Stellenwert - aber hier kam das natürlich so unerwartet, damit hat niemand gerechnet."
Nach dem Mond gezielt, bei den Sternen gelandet
Dabei hat die Ausnahme-Saison ganz genügsam angefangen, wie sich Siebeck erinnert: "Nach dem Spiel gegen Chemie (6. April) saß ich mit Lukas Wilton zusammen in der Kabine - wir haben uns an das Sommer-Trainingslager zurückerinnert und kamen zu dem Schluss: Unfassbar, was wir jetzt erreicht haben!"
Was genau wurde denn im Hotel Dreiwasser zu Sternberg ausbaldowert? "Wir hatten uns zusammengesetzt und versucht, Ziele zu formulieren." Einst sahen die bescheidenen Ambitionen in etwa so aus: "Wir wollten erst einmal eine bessere Saison spielen, als davor." Nach dem Mond gezielt, bei den Sternen gelandet.
Das hat mir das Gefühl gegeben, okay, hier geht was.
Alexander Siebeck über das Hinspiel gegen Halle
Signifikante Schwächephasen gab es auf dem Weg zur Meisterschaft, vielleicht abgesehen von der Ergebnisdelle der letzten Wochen, eigentlich nicht. Zu klar des Trainers Matchpläne, zu groß der Zusammenhalt, zu resilient und diszipliniert das spielerische Gebilde. Für Siebeck war das Hinspiel gegen den Halleschen FC (1:1) einer von vielen Schlüsselmomenten: "Da haben wir gesehen, dass wir die bessere Mannschaft waren gegen eine sehr, sehr gute Mannschaft in der Liga. Das hat mir das Gefühl gegeben, okay, hier geht was." Auch das wurde umgehend zum Sportkameraden Wilton gekabelt: "Ich habe zu ihm gesagt, dass mich das an meine Meister-Saison mit dem BFC erinnert hat. Wir waren gerade am Anfang der Saison nicht immer die beste Mannschaft, aber haben die Spiele alle irgendwie gezogen", blickt der Mittelfeld-Motor zurück.
Das sportliche Kompetenzteam aus Cheftrainer Seitz und Sportdirektor Toni Wachsmuth hat gänzlich unaufgeregt zunächst einen kleinen, aber ausgewogenen und nimmermüden Kader gefertigt, zu den jeweiligen Transfer-Deadlines wurde klug nachgelegt und verbessert. Wachsmuth suchte dabei gezielt nach vielseitigen Mentalitäts-Spielern und stieß auf Gold - nahezu alle Neulinge schlugen umgehend ein und sind in ihrer Entwicklung noch nicht am Ende.
Grundlagen-Fan Seitz
Der Trainer, der stets volle Laufbereitschaft, Disziplin und Intensität einfordert, äußert sich voller Stolz über seine Musterknaben: "Es hat viel damit zu tun, dass die Mannschaft sehr wissbegierig ist und heiß ist, Spiele zu gewinnen." Generell bricht Seitz sein Magnum Opus gern auf die fußballerischen Grundlagen herunter: "Wir haben extrem viel dafür investiert und daran sieht man, dass sich harte Arbeit immer auszahlt."
Es ist egal, wer spielt - jeder gibt Vollgas und ordnet sich dem gemeinsamen Ziel unter.
Auch für Wilton steht das Kollektiv und die Basisarbeit an erster Stelle: "Auf jeden Fall der Teamgeist! Man sieht es auch von außen, dass wir uns alle sehr gut verstehen und jeder dem anderen alles gönnt. Es ist egal, wer spielt - jeder gibt Vollgas und ordnet sich dem gemeinsamen Ziel unter. Nicht, weil wir so gute Einzelspieler haben, sind wir erfolgreich, sondern weil wir eine gute Truppe sind."
Für den Abwehrchef der Leipziger geht mit der Meisterschaft ein lang gehegter Traum in Erfüllung: "Das ist das Größte für mich in meiner fußballerischen Laufbahn. Die Regionalliga Nordost ist einfach so schwierig zu bespielen - ich bin schon lange in dieser Liga und das ist etwas ganz Besonderes", frohlockte der 29-Jährige.
Aufstiegsregelung trübt die Stimmung
Und nun? Angesichts der drohenden Gefahr, eine wahnwitzig positive Saison innerhalb von nur zwei Aufstiegsspielen (28. Mai/ 01. Juni gegen den TSV Havelse) zunichtezumachen, stehen die Leipziger emotional zwischen den Stühlen. Für Alexander Siebeck "fühlt es sich bescheiden an, nach so einer Saison noch in die Aufstiegsspiele zu müssen - das ist absolut unfair!"
Der 31-Jährige legt nach: "Ich weiß gar nicht, ob es im Sport eine schlechtere Situation für einen Sportler gibt, als es bei uns in der Regionalliga der Fall ist." Doch auch diese mentale Zerreißprobe werden die Mannen aus Probstheida gewohnt selbstsicher und professionell angehen. Wilton ist sich sicher, dass "wir jedes Spiel gewinnen können, wenn wir bei uns bleiben."
Der denkbar knapp verpasste Aufstieg der Loksche, als man 2020 am SC Verl und der Auswärtstor-Regelung scheiterte, ist Schnee von gestern. Ohnehin steht mit Kapitän und Urgestein Djamal Ziane nur noch ein Aktiver im Kader, der von der Schmach zeugen kann - aber wohl gar nicht will.
Dieser Verein gehört in die 3. Liga!
Neue Helden gibt es im blau-gelben Land zuhauf - Noel Eichinger ist einer von ihnen. Der aus Regensburg geliehene Zauberfuß trug mit Toren, Vorlagen und Kunststückchen maßgeblich zum Erfolg bei. Für ihn ist klar: "Dieser Verein gehört in die 3. Liga! Der Klub hat schwere Zeiten hinter sich und muss wieder behutsam aufgebaut werden. Es ist ein verdammt guter Weg, den der Verein einschlägt."
Drittliga-Auflagen erhalten
Ob das Team im Fall der Fälle weitestgehend zusammenbleiben kann und auch Eichinger weiter seine Stiefel in Leipzig schnüren wird, ist auch anhand der kniffligen zweigleisigen Planung völlig unklar. Gerade infrastrukturell muss noch einiges passieren - Rasenheizung, Presseturm und gestiegene Sicherheitsanforderungen, die Aufgaben sind vielfältig. Unmittelbar nach dem Ende der Aufstiegsspiele rollen unabhängig vom Ausgang die Bagger an, das Fundament für eine goldene Zukunft wird geschaffen.
Die Abteilung Sport geht (zu schnell) voran, der Erfolg hat den Verein kalt erwischt. Diesen gemeinsamen wilden Ritt "kann uns keiner mehr nehmen, das sollen und müssen wir feiern", sagt Lukas Wilton - auch wenn die Hürde Aufstiegsspiele am Ende zu hoch sein sollte. Alexander Siebeck pflichtet dem Kabinen-Spezi bei und bläst zum Angriff auf die Tresen der Stadt: "Es wird auf jeden Fall richtig gefeiert, wir haben ja noch genug Zeit, zu regenerieren." Auch ein schlafender Riese kann mal eine Nacht durchmachen.
Georg Meyer