Comic-Kolumne: Bea Davies erzählt in „Super-GAU“ von Fukushima-Folgen in Berlin

vor 23 Stunden 1

„Super-GAU“ ist bekanntlich ein sinnloser Begriff, denn GAU steht ja schon für „größten anzunehmenden Unfall“, und wie sollte man das Größte noch einmal steigern? Das hat den munteren Gebrauch in der Umgangssprache nicht verhindern können, und nun heißt auch ein Comic so: der erste eigene Band von Bea Davies, einer fünfunddreißigjährigen Italienerin, die seit 2012 in Berlin lebt und arbeitet. Nach einem Szenario von Patrick Spät zeichnete sie 2019 den Band „Der König der Vagabunden“, eine zeitgeschichtliche Biographie, die beim Avant-Verlag erschien. Für ihr Debüt als Comicautorin ist sie jetzt zu Carlsen gewechselt, dem wohl immer noch renommiertesten deutschen Comicverlag.

Wenn man sich indes dessen kommendes Programm ansieht, dürfte das nicht mehr lange so bleiben. Denn an namhaften deutschsprachigen Autoren herrscht da ebenso Mangel wie an vielversprechenden Neulingen. Mag also sein, dass der Band von Bea Davies für lange Zeit die letzte interessante Carlsen-Neupublikation ist. Isabel Kreitz musste mit ihrer Erich-Kästner-Lebensparaphrase „Die letzte Einstellung“ schon zu Reprodukt wechseln (zu diesem Comic an dieser Stelle in ein paar Wochen mehr).

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausDie Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Aber feiern wir die Feste, wie sie fallen, und der Comic von Bea Davies ist insofern ein Fest, als er zum Interessantesten gehört, was in Deutschland in den letzten Jahren herausgekommen ist. Das heißt nicht zwingend, dass er zum Besten gehört. Schwächen in der Handlung sind unübersehbar, und auch die Figurendarstellung ist arg schematisch. Das geht so weit, dass eine der Protagonistinnen so uneindeutig gezeichnet ist, dass man sich schwertut, sie als Frau zu erkennen (und das liegt nicht etwa an fluider Genderidentität, sondern einfach daran, dass es für Bea Davies ja klar war, um wen es sich handelt – aber dem Publikum sollte Comiclektüre nicht unnötig durch Bequemlichkeit erschwert werden).

Von der Bedeutung eines <em>Spindoctors</em>

Besonders auffällig ist die Verwandtschaft mit einem vor Kurzem erschienenen anderen Comic: „Der verkehrte Himmel“ von Mikael Ross. Beide spielen in Berlin, beide verbinden diverse Einzelschicksale zu einem zunächst noch nicht absehbaren Gesamtkomplex, beide verbinden einen asiatischen Ausgangspunkt mit der Gegenwart in der deutschen Hauptstadt, und beide verbinden Manga-Ästhetik mit europäischer Erzählweise. Beide sind denn auch vom selben Spindoctor betreut worden: Jean-Baptiste Coursaud, der seit einigen Jahren von Berlin aus dermaßen viele Bücher dort ansässiger Comicautoren beratend betreut, dass man mittlerweile von einem Coursaud-Stil sprechen kann.

Der Tsnuami vom 11. März 2011 brandet durch die Straßen der japanischen Küstenstadt Sendai.Der Tsnuami vom 11. März 2011 brandet durch die Straßen der japanischen Küstenstadt Sendai.Carlsen Verlag

An „Super-GAU“ kann man ihn gut beschreiben: Einbettung der Handlung in eine konkrete reale Umgebung inklusive akribischer Dekorgestaltung zu deren Situierung. Dazu arg gefühlvolle Charakterisierungen der Figuren; man könnte auch von hohem (aber nicht hohlem!) Pathos sprechen. In „Super-GAU“ nimmt alles seinen Anfang am 11. März 2011 in der japanischen Küstenstadt Sendai, wo ein Mann von dem durch das damalige schwere Erdbeben ausgelösten Tsunami getötet wird. Der Flutwelle folgt auf den noch folgenden 180 Seiten, die zum selben Tag in Berlin angesiedelt sind, eine Gefühlswelle, denn einer der dortigen Akteure, ein kleiner Junge, ist der Sohn des Ertrunkenen. Ihm wird zum Schluss der Geschichte der vierzehn Jahre später angesiedelte Epilog gehören. Auch dieser zeitliche Sprung, der die Folgen der zuvor erzählten Ereignisse aus großem Abstand verdeutlicht, ist ein typisches Coursaud-Element.

Die traumatisierte Träumerin

Einiges aber ist dann doch auch ganz Bea Davies, so etwa das Interesse an Außenseitern der Gesellschaft, wie es sich schon bei „Der König der Vagabunden“ gezeigt hatte, hier personifiziert durch einen stummen jungen Obdachlosen, dessen Leben eng mit dem von Lea verbunden ist, die ohne Eltern bei ihrem Großvater aufwächst und am 11. März 2011 ihren achtzehnten Geburtstag hat. Die neue Fähigkeit zur Selbständigkeit wird auf harte Proben gestellt, denn Lea ist traumatisiert – und eine Träumerin. Ihre Tag- und Nachtträume sind eine faszinierende Ebene im Geschehen und verbinden das Motiv der Bedrohung durch Wasser in Japan mit Berlin.

In Berliner Traumsequenzen ist ständig präsent, was am gleichen Tag in Japan Menschen widerfährt.In Berliner Traumsequenzen ist ständig präsent, was am gleichen Tag in Japan Menschen widerfährt.Carlsen Verlag

Andere Akteure sind der türkische Wachdienstmann Celik, der vietnamesische Fast-Food-Verkäufer und Dealer Quang, der erfolglose Schriftsteller Nacho, dessen ehemalige Partnerin Josie, die jetzt als Sozialarbeiterin tätig ist, und eine namenlose Stadtstreunerin. Diese insgesamt acht Menschen, deren Zusammenstellung ein Berliner Panoptikum gemäß diversen Herkünften und Generationen bietet, haben alle ihre eigenen Sorgen am 11. März 2011, jenem Tag, der als Katastrophendatum im kollektiven Gedächtnis verankert ist, dessen Folgen sich aber für die Protagonisten des Comics erst langsam erweisen. Die Ausläufer der japanischen Flutwelle aber sind es, die die Handlung in Gang halten.

Das alles ist wie gesagt durchaus mangaesk erzählt; ein markantes Gestaltungsmittel der schwarz-weiß gehaltenen und lediglich grau aquarellierten Geschichte sind ganz- oder gar doppelseitige Panels, die die Seitenränder ausloten, während das Gros der Handlung in hart konturierten Panels dargestellt wird, also klassisch westlich. Das passt ausnehmend gut zur Verbindung der beiden Schauplätze – aber auch das kennt man schon aus Ross’ „Der verkehrte Himmel“. Beide Comics entstanden parallel, und es wäre interessant zu wissen, ob es Austausch zwischen Davies und Ross gab oder nur Coursaud das Bindeglied darstellt. Vor ein paar Jahren hätte ich sein Wirken noch als Super-GAG (größter anzunehmender Glücksfall) bezeichnet; mittlerweile nutzt sich der Überraschungseffekt bei von ihm betreuten Geschichten doch etwas ab.

Gesamten Artikel lesen