China und der Zweite Weltkrieg: Architektur der Erinnerung

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Zwischen 20 000 und 80 000 Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, dann ermordet. Viele von ihnen enthauptet. Ganze Familien ausgelöscht. Ein Drittel aller Häuser, Schulen und Tempel, wurden niedergebrannt, zerstört. Ein Kriegsverbrechen unvorstellbarer Dimension, das die japanische Regierung nie in seinem vollen Ausmaß anerkannt hat.

Der Horror von Nanjing belastet noch immer die Beziehungen zwischen China und Japan. Das Nanjing-Massaker-Museum, das jährlich fünf Millionen Besucher anzieht, gehört zu den bekanntesten im Land. Im Laufe der Jahre wurde die Ausstellung dreimal erweitert. Die Umbauten sind mehr als nur Zurschaustellung von Geschichte. Sie zeigen, wie sich Chinas Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg verändert – und damit sein Machtanspruch in der Welt.

In der westlichen Erinnerungskultur spielt der ostasiatische Verbündete, die Republik China, kaum eine Rolle

Dieser Wandel ist nicht nur in Nanjing sichtbar, er wird auch am 9. Mai eine Rolle spielen, wenn Chinas Präsident Xi Jinping nach Moskau reist, um dort an der traditionellen Siegesparade teilzunehmen. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland verbringt Chinas Präsident vier Tage in der Stadt – bei dem Besuch soll es auch um die weitere Entwicklung der gemeinsamen Beziehungen gehen. Peking gilt als wichtigster Unterstützer Moskaus im Krieg gegen die Ukraine.

In der westlichen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg spielt der ostasiatische Verbündete, die Republik China, kaum eine Rolle. Der Krieg zwischen Japan und China wirkt wie ein Nebenschauplatz. Dabei markierte der japanische Angriff 1937 den Beginn der kriegerischen Aggression der Achsenmächte.

Für China reicht der Konflikt sogar bis 1931 zurück, als die japanische Armee in Nordchina einen Anschlag fingierte, um die Mandschurei zu besetzen. Das erstarkte Japan strebte nach Gebieten und Ressourcen, es war der Anfang seiner Expansion in Asien. 1937 weitete sich der Konflikt zu einem umfassenden Krieg aus. Und China war nicht nur von außen bedroht: Das Land befand sich auch in einem Bürgerkrieg zwischen der Kuomintang (KMT) und den Kommunisten, der von 1927 bis 1949 tobte.

Bis zur Pearl-Harbour-Attacke 1941 kämpfte das Land faktisch allein gegen die Übermacht, während die politische Spaltung die Kriegsanstrengungen zusätzlich erschwerte.

China erhielt international wenig Anerkennung für die Millionen Opfer, die es während des Kriegs erlitten hatte

Vollständig unter japanischer Kontrolle stand China jedoch nie. Nach dem Kriegseintritt der USA verfolgte Washington die Strategie, China im Konflikt zu halten, um japanische Kräfte zu binden. 1944 kämpften chinesische Soldaten mit britischen und US-Truppen in Burma, sicherten den Weg nach Indien und unterstützten die alliierten Kriegsanstrengungen. China erhielt international wenig Anerkennung für die Millionen Opfer, die es während des Kriegs erlitten hatte. Auf den Kampf gegen den Faschismus folgte der Kalte Krieg, die Welt zerfiel in zwei Machtblöcke. China wurde nun als kommunistischer Feind betrachtet.

In China stand nach Maos Gründung der Volksrepublik 1949 zunächst der kommunistische und antiimperialistische Kampf im Vordergrund, auch um die tiefen Wunden des Bürgerkriegs zu heilen und die nationale Einheit wiederherzustellen. Von den Siebzigerjahren an stärkte der Wirtschaftserfolg das Selbstbild, doch der Wegfall von Klassenidentitäten riss eine ideologische Lücke. Das Außenbild geriet durch Menschenrechtsverstöße und Handelsstreitigkeiten unter Druck.

Deshalb änderte die Partei ihre Erzählung, wie der Historiker Rana Mitter in seinem Buch „Chinas guter Krieg“ beschreibt. Heute strebe das Land an, seine wachsende Präsenz in der Welt nicht nur als wirtschaftliche und militärische Stärke, sondern als „normative und moralische Führung“ darzustellen – wobei der Zweite Weltkrieg als Ausgangspunkt dient.

Jedes beteiligte Land hat seine eigene Erzählung zum Zweiten Weltkrieg: Die USA betonen ihren idealistischen Einsatz als Verteidigerin der Demokratie. Frankreich richtet den Fokus weniger auf das Vichy-Regime, sondern hebt den Widerstand der Zivilbevölkerung und des Militärs als Grundlage der nationalen Identität hervor. Das Massaker-Museum in Nanjing gewährt einen interessanten Einblick in die Entwicklung in China: Für die KP sind Museen ein zentraler Ort, um politische Narrative zu vermitteln. Nach der Niederschlagung der Proteste von 1989 bezeichnete die Führung sie als „patriotische Erziehungszentren“.

Die Besucher können auf einen Teil der Ausgrabungsstelle hinabsehen. Dort liegen Skelette von Opfern, echte Knochen

Das Museum in Nanjing wurde bereits 1985 eröffnet. Die Gedenkhalle, so der Architekt Qi Kang, war als Ort der Erinnerung konzipiert. Sie wurde auf einem Massengrab errichtet, das in den Achtzigerjahren ausgegraben wurde. Die Besucher können auf einen Teil der Ausgrabungsstelle hinabsehen. Dort liegen die Skelette von Opfern, echte Knochen, die nur teilweise freigelegt wurden. Fotografieren ist in diesem Raum verboten.

Der erste Ausbau erfolgte 1997 unter der Leitung von Qi Kang. Ein markantes Merkmal ist der mehrere Hundert Meter lange, L-förmige Eingang. Eine 20 000 Quadratmeter große Ausstellungsfläche wurde 2007 im Rahmen einer dritten Ausbauphase hinzugefügt. Diese ist nun von der Straße aus sichtbar, zuvor lag das Museum eher versteckt. Seitdem steht dort auch eine 11,5 Meter hohe Skulptur, die eine Mutter zeigt, die ihren toten Sohn in den Armen trägt.

Dazugekommen ist auch eine gewaltige Grasfläche, auf der Veranstaltungen stattfinden. 2014 hielt Xi Jinping dort eine Gedenkveranstaltung vor zehntausend Soldaten, Schülern und Überlebenden des Massakers ab.

Die Abkehr vom ersten, zurückhaltenderen Entwurf wird in der letzten Erweiterung noch deutlicher: die „Halle der Sieger“, sie wurde 2015 eröffnet. Die Ausstellung liegt neben dem Museumsgebäude und ist durch eine Brücke verbunden. Die Besucher fahren auf einer Rolltreppe in die Räume hinab, umgeben von Bildern vom Kriegsende. Menschen, die sich in den Armen liegen, küssen und feiern – in New York, in Moskau, in Peking.

Auf einem elektronischen Banner sind auf Englisch die Worte zu lesen: „Wir haben gewonnen.“ Die Ausstellung umfasst den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieg, mit einem Fokus auf den Krieg gegen Japan. „Sie setzt Chinas Sieg über Japan in einen internationalen Kontext“, schreibt Emily Matson von der amerikanischen Denkfabrik Wilson Center in einer Analyse über die Erweiterungen des Museums.

Mao betonte den Sieg über Japan und die chinesische Bourgeoisie, womit auch die verfeindete Regierung der Nationalpartei Kuomintang gemeint war. Nach 1989 setzte die Partei verstärkt auf die Erzählung des „Jahrhunderts der Demütigung“, in der China seine Opferrolle betonte. Die Wut richtete sich gegen die japanischen Täter und lenkte sie von der Partei ab.

Xi Jinping hat das Land seit seinem Amtsantritt 2012 auf das große „Wiedererstarken“ eingeschworen

Diese Erzählung war zwar äußerst erfolgreich, wie Matson schreibt. Sie hat jedoch ihre Grenzen, da sie Chinas Schwäche in den Vordergrund stellt.

Xi Jinping hat das Land seit seinem Amtsantritt 2012 auf das große „Wiedererstarken“ eingeschworen. Chinesische Diplomaten treten zunehmend aggressiv auf. Um dennoch als „gerechte und moralische Macht“ wahrgenommen zu werden, sein Verhalten zu legitimieren und sich Ansehen zu verschaffen, betont China, wie Rana Mitter argumentiert, seine Beiträge zum Sieg im Zweiten Weltkrieg.

In der Ausstellung in Nanjing erfahren die Besucher auf bemerkenswert offensive Weise, dass es Vertreter der Nationalregierung waren, die an der Gründung der Vereinten Nationen beteiligt waren und China bei den Kriegsverbrecher-Tribunalen vertraten. Gleichzeitig stellt die KP jedoch klar, dass sie die „Hauptstütze“ war, obwohl diese Behauptung historisch nicht zutreffend ist: Die Partei hatte zu dieser Zeit keinen offiziellen Status und spielte auf der Weltbühne keine Rolle.

Dieses Jahr, zum 80. Jahrestag des Endes des Pazifikkrieges im September, dürfte Peking erneut eine Parade planen. 2015 jubelten Tausende Zuschauer dem Aufmarsch von Soldaten, Panzern und Raketen in der Hauptstadt zu. Auch hier: anstelle von stillem Gedenken eine Demonstration der neuen Macht.

Wladimir Putin ist schon eingeladen.

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