Kaum ein Dokument war über Jahrzehnte so umstritten wie dieses, das vor 75 Jahren in Stuttgart-Bad Cannstatt unterschrieben worden war. War es nun ein „beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit“? Oder doch eher ein Schriftstück „beispielloser Blindheit und Verantwortungslosigkeit vor der deutschen Geschichte“? Der Historiker Mathias Beer zeichnete am Mittwoch beim Festakt am historischen Ort im Beisein von Kanzler Friedrich Merz den langen Kampf um die Deutungshoheit über die Charta der Vertriebenenverbände nach. Und trotz aller Debatten darüber stellte er fest: Die Geschichte der Charta ist ein weitgehend unerforschtes Kapitel deutscher Zeitgeschichte. Der Festakt zum Jubiläum war auch dazu da, das zu ändern, auch wenn die Schärfe der Auseinandersetzung längst verschwunden ist.
Heute schauen die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs und ihre Nachkommen ziemlich stolz auf ihr „Grundgesetz“, wie der Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), Bernd Fabritius, betonte. „Die Vertriebenen und ihre Verbände vollzogen mit der Charta in einer Zeit größter sozialer Not und Unsicherheit eine bewusste Abkehr von Rache und Vergeltung. Sie zeichneten eine der ersten modernen Visionen eines freien und geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“
Die Heimatvertriebenen, so Kanzler Merz, hätten am Fundament Deutschlands „wesentlich mitgearbeitet“
Doch vor 75 Jahren schauten viele Betroffene sehnsuchtsvoll, viele Alteingesessene naserümpfend auf die im Dokument grafisch hervorgehobene Forderung, das „Recht auf die Heimat“, eines „der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“, anzuerkennen und zu verwirklichen. Das wurde damals gern als purer Revisionismus ausgelegt. Die Charta offenbart, so Beer, „das grundsätzliche Dilemma, vor dem die deutsche Flüchtlingspolitik damals stand: Ein Recht einzufordern, das nicht zu verwirklichen war, und zugleich das Hineinwachsen in eine fremde, anfangs vielfach feindselige Gesellschaft, die ungewollt und nur sehr langsam zur neuen Heimat wurde.“
Etwa 12 bis 14 Millionen Deutschen waren infolge des Zweiten Weltkrieges aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern vertrieben worden. Mehr als 2,5 Millionen Menschen starben auf der Flucht oder sind seither vermisst.
In seiner Festrede würdigte Kanzler Friedrich Merz (CDU) die Leistung der Heimatvertriebenen. Sie hätten wesentlich mitgearbeitet an dem wirtschaftlichen Fundament, „das unser Land bis heute trägt“, sagte Merz. Das sei eine der ganz großen Erfolgsgeschichten Deutschlands, über die bislang viel zu wenig gesprochen worden sei. Für viele der Millionen Heimatvertriebenen habe das Ende des Zweiten Weltkriegs kein Ende der Gewalt bedeutet. Stattdessen hätten sie die „furchtbare Erfahrung“ gemacht, „erst rechtlos und dann heimatlos“ zu sein.
Das Bekenntnis zu Versöhnung sei alles andere als eine Selbstverständlichkeit gewesen
In der „neuen Heimat“ seien sie vielfach auf ein Klima gestoßen zwischen stiller Ablehnung und offener Feindseligkeit, sagte Merz.Oft seien Vertriebene und Spätaussiedler behandelt worden wie „Menschen zweiter Klasse“. Vor diesem Hintergrund sei das Bekenntnis zu Frieden, Freiheit und Versöhnung in der „Charta der Heimatvertriebenen“ alles andere als eine Selbstverständlichkeit gewesen. „Schuldfragen können politisch und moralisch noch so klar entschieden sein. Aber die Wirklichkeit des Krieges schafft immer Opfer auf allen Seiten“, sagte Merz mit Blick auf die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg.
Auch Fabritius betonte: „Ja, Flucht und Vertreibung sind ohne diesen Krieg, ohne den Holocaust und die furchtbaren Verbrechen Nazi-Deutschlands so nicht denkbar. Aber die deutschen Verbrechen waren keine ‚notwendige oder hinreichende Bedingung‘ oder gar rechtliche Rechtfertigung für die Vertreibungsverbrechen der anderen Staaten. Vertreibungen sind und bleiben immer Unrecht und können nicht gegen andere Verbrechen aufgerechnet werden.“
Und so blickten Fabritius und Merz auch auf die aktuelle Weltlage: „Gerade mit dem Blick etwa in die Ukraine oder den Nahen Osten“ bleibe ein Ziel „unserer Arbeit die Durchsetzung des Menschenrechts auf Heimat sowie eines internationalen strafbewehrten Vertreibungsverbotes. Gerade wegen unseres eigenen Schicksals blicken wir mit Empathie auf die Opfer aktuellen Vertreibungsgeschehens in der Welt und auf deren Sehnsucht nach Heimat“, so Fabritus.