Atomausstieg: Hat die Energiewende 600 Milliarden Euro zu viel gekostet? Forscher streiten

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Forscherstreit über Energiewende Hat der Atomausstieg Deutschland wirklich 600 Milliarden Euro gekostet?

Laut einer viel beachteten Studie hätte Deutschland immense Summen sparen können, wenn es weiter auf Kernkraft statt auf Erneuerbare Energien gesetzt hätte. Doch nun wird dem Autor ein grundlegender Fehler vorgeworfen.

11.10.2024, 06.13 Uhr

 Seit Ende 2021 erzeugt dieser Meiler keinen Strom mehr

Stillgelegtes Kernkraftwerk Gundremmingen in Bayern: Seit Ende 2021 erzeugt dieser Meiler keinen Strom mehr

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Stefan Puchner / picture alliance / dpa

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Eigentlich hat Deutschland das Kapitel Kernenergie beendet: Seit Mitte April 2023 wird in der Bundesrepublik kein Atomstrom mehr erzeugt. Mittlerweile haben die Betreiber der letzten drei deutschen Kernkraftwerke allesamt die Genehmigung, ihre Meiler abzureißen.

Trotzdem ist die Atomkraft nicht totzukriegen. So fordert etwa die Union, die letzten Kernkraftwerke nicht rückzubauen und stattdessen eine Wiederinbetriebnahme nach der nächsten Bundestagswahl offenzuhalten. Die Wirtschaft brauche den günstigen Atomstrom, heißt es zur Begründung.

 In politischen Debatten spaltet die Kernenergie noch immer

Aufkleber der Anti-Atomkraft-Bewegung: In politischen Debatten spaltet die Kernenergie noch immer

Foto: Rolf Poss / IMAGO

Und auch in der Wissenschaft tobt gerade eine Debatte darüber, ob Deutschland Hunderte Milliarden Euro hätte sparen können, wenn der Bund nicht von 2002 an unter dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und dem damaligen Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) aus der Kernenergie ausgestiegen wäre – und erneuerbare Energien seitdem nicht derart gefördert hätte. Hätte die Republik stattdessen weiterhin in Atomkraft investiert, wäre auch die Klimabilanz des deutschen Stromsektors deutlich besser ausgefallen, schrieb der norwegische Professor Jan Emblemsvåg diesen Sommer  im »International Journal of Sustainable Energy«. Die »Welt« berichtete im September prominent über Emblemsvågs Erkenntnisse.

Doch nun kritisieren vier Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe, von der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie in Cottbus sowie vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg die Rechnung scharf. Sie fuße »auf einem grundlegenden methodischen Fehler«: Emblemsvåg habe den »Großteil der Ausgaben erneuerbarer Energien doppelt gezählt«, monieren die Fraunhofer-Fachleute Barbara Breitschopf, Hans-Martin-Henning, Benjamin Pfluger, Mario Ragwitz und Martin Wietschel in ihrer Stellungnahme. »Die durchgeführte Analyse ist somit wissenschaftlich nicht haltbar

»Doppelzählung« mit Folgen

Konkret hatte Emblemsvåg vorgerechnet, dass Deutschland seit 2002 etwa 600 Milliarden Euro gespart hätte, wenn der Staat an der Atomkraft im damaligen Ausmaß festgehalten hätte, statt den Ausbau erneuerbarer Energien massiv zu fördern. Wenn Deutschland in der Zwischenzeit zudem neue Kernkraftwerke gebaut hätte, um mehr Treibhausgasemissionen zu vermeiden, wäre die Bundesrepublik laut Emblemsvåg immer noch um 332 Milliarden Euro günstiger weggekommen als mit der tatsächlich vollzogenen Energiewende.

 Betreiber von Erneuerbaren-Anlagen in Deutschland haben seit der Jahrtausendwende Hunderte Milliarden Euro investiert

Windpark in der Nordsee nahe Amrum: Betreiber von Erneuerbaren-Anlagen in Deutschland haben seit der Jahrtausendwende Hunderte Milliarden Euro investiert

Foto: Morris MacMatzen / REUTERS

Das Fraunhofer-Team kritisiert nun allerdings, wie Emblemsvåg die Kosten der Energiewende berechnet hat: Er zog zum einen alle Ausgaben heran, die Betreiber von Wind- oder Solarparks seit 2002 getätigt haben, um neue Anlagen zu installieren, zu betreiben und zu warten. Zum anderen rechnete er die Subventionen, die Anlagenbetreiber nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) erhalten haben, als großen Kostenblock für die Allgemeinheit obendrauf. So kam Emblemsvåg auf Gesamtausgaben von 696 Milliarden Euro von 2002 bis 2022.

Dabei sind diese Kosten auf ganz unterschiedlichen Ebenen angefallen: Betreiber von Wind- und Solarparks nutzen – neben den Erlösen aus dem Stromverkauf – ja gerade die EEG-Subventionen, um damit ihre Investitionen gegenzufinanzieren. Die Fraunhofer-Fachleute verdeutlichen das anhand eines Beispiels: ein Student, der ein Auto auf Kredit kauft und dafür Raten von 300 Euro pro Monat zahlt. »Die Eltern unterstützen den Autokauf des Studenten mit 200 Euro im Monat«, schreiben sie. »Emblemsvågs Logik folgend kostet das Auto nun monatlich 500 Euro.« Tatsächlich aber sind die Zahlungen der Eltern nur ein Zuschuss zur Finanzierung des Autos.

Die »Doppelzählung«, die das Fraunhofer-Team moniert, hat massive Auswirkungen auf Emblemsvågs Hauptaussage: Zieht man nur die Ausgaben für Investitionen, Betrieb und Wartung aller neuen Erneuerbaren-Anlagen seit 2002 heran – und nicht deren Gegenfinanzierung –, kommt der Professor aus Ålesund auf 387 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Kosten für einen theoretischen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke und den Bau zusätzlicher Meiler beziffert Emblemsvåg auf 364 Milliarden Euro. Plötzlich lägen die Zahlen also gar nicht mehr so weit auseinander. Staatliche Förderungen für den Bau von Kernkraftwerken, der viel Kapital und Zeit benötigt, hat Emblemsvåg gar nicht erst eingerechnet.

Hätte Deutschland die im Jahr 2002 bestehenden Kernkraftwerke lediglich weiterbetrieben und keine zusätzlichen Meiler gebaut, wären laut Emblemsvåg gut 91 Milliarden Euro Betriebskosten angefallen. Dann wäre die Klimabilanz allerdings leicht schlechter ausgefallen als mit der tatsächlich vollzogenen Energiewende.

Politisches Hin und Her

Emblemsvåg räumt auf Anfrage zwar ein, dass »immer die Gefahr einer gewissen Doppelzählung« bestehe – allerdings habe er »die Gesamtkosten für Deutschland« ermitteln wollen und nicht die Situation einzelner Anlagenbetreiber. Emblemsvåg bezeichnet seinen Ansatz als »höchstwahrscheinlich konservativ«, da er längst nicht alle Systemkosten einbezogen habe. Dazu zählen zum Beispiel die Ausgaben, die anfallen, um Stromnetze auszubauen und stets im Gleichgewicht zu betreiben.

Auch bleibt Emblemsvåg bei seiner Aussage, dass Deutschland mit dem Bau zusätzlicher Kernkraftwerke »sehr niedrige einmalige Kosten« hätte tragen müssen, wenn man die »enormen Verbesserungen bei den Emissionen« berücksichtige.

Die Fraunhofer-Fachleute kritisieren grundsätzlich, dass Wissenschaftler in ihren Szenarien immer die Kosten gesamter Systeme in den Blick nehmen sollten – zum Beispiel für das ganze Energiesystem oder die gesamte Volkswirtschaft –, statt Zahlungsströme einzelner Technologien miteinander zu vergleichen.

Insgesamt war die Energiepolitik in Deutschland seit der Jahrtausendwende von einem großen Hin und Her geprägt: Nach dem rot-grünen Atomausstiegsbeschluss von 2002 verlängerte die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel die Laufzeiten der Kernkraftwerke 2010 zunächst um mehrere Jahre. Doch nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima ruderte die Regierung schon 2011 wieder zurück und beschloss einen schrittweisen Atomausstieg bis Ende 2022.

 Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher werden Reaktivierungen

Rückbau in Gundremmingen: Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher werden Reaktivierungen

Foto: Florian Peljak / SZ Photo / picture alliance

Während der Energiepreiskrise 2022 stritt die Ampelkoalition dann wochenlang darüber, ob es bei diesem Enddatum bleiben sollte. Am Ende ordnete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen Weiterbetrieb der letzten drei Kernkraftwerke bis Mitte April 2023 an.

Seitdem sind alle Debatten über einen Weiterbetrieb müßig. Bislang verlangt das Atomgesetz, die für immer abgeschalteten Kernkraftwerke unverzüglich stillzulegen und abzubauen. Je weiter der Rückbau voranschreitet, desto teurer und unwahrscheinlicher wird eine Reaktivierung.

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