Architekt Baller tot: Sich etwas trauen beim Bauen

vor 2 Tage 1

Wer in den Neunzigerjahren in Hamburg Architektur studierte, konnte erleben, was passierte, wenn der aus Berlin angereiste Architekt Hinrich Baller den Raum betrat und die meist sehr quadratischen Modelle anschaute, die die Studenten bei seinen Kollegen entworfen hatten, die in Hamburg und Berlin sehr quadratische Häuser errichteten. Baller betrachtete die Kisten, schaute die Studenten verhangen amüsiert an und sagte „Das habt ihr also entworfen“, und hätte Baller das nicht auf eine im Kern sehr herzliche und menschenfreundliche Art gesagt, hätte es wie ein Vorwurf oder sogar ein bisschen hämisch klingen können, denn es war klar, dass Baller all die schüchternen Kisten ganz und gar nicht gefielen.

Aber er war nicht hämisch, er liebte es, mit den Studenten zu diskutieren: Warum steht deine Kiste so steif da, so verklemmt, bist doch selbst gar nicht so? Während er erklärte, wie das Haus anders, komplexer, lebendiger, offener aussehen könnte und dabei gestikulierte, legten sich die weiten Zipfel seiner Hemdärmel auf das Modell wie Mantarochen, die auf einem Riff pausieren – und schon sah das eckige Modell nach einem typischen Baller-Entwurf aus: wilder, mit auskragend schwingenden Balkonen und bewegten, ineinanderfließenden Räumen.

Baller sah seinen Gebäuden auf eine interessante Weise ähnlich: Lange Haare, Ledermantel, Hemden mit rüschenartigen Zipfeln, eher Barock-Impressario denn asketischer Rollkragen-Minimalist, eher Jugendstil als Funktionalismus. Baller war geprägt vom Berliner Revoltengeist der späten Sechzigerjahre. In der Architektur bedeutete das auch: Kritik an den Funktionalisten in den Baubehörden, die in Berlin einen Altbau nach dem anderen wegreißen ließen, um an ihrer Stelle die trostlosen Wohnkartons des sozialen Wohnungsbaus zu errichten.

Zeigen, das es anders geht

Der 1936 im damals ostpreußischen Stargard geborene Baller und seine sechs Jahre jüngere Frau Inken, mit der er von 1966 bis 1989 in Berlin ein gemeinsames Büro betrieb, zeigten, dass es anders geht. Sie setzen sich für behutsame Renovierung und Stadtreparatur ein, retteten einen Taut-Bau am Kottbusser Damm und bauten die Stadt spielerisch weiter.

Baller hatte nicht nur Architektur, sondern auch Musik studiert, und das sah man seinen Entwürfen an. Er hasste rechte Winkel und wollte Schwingungen bauen. Er wollte die organische Moderne von Taut, Scharoun und Hermkes weiterdenken und die Belebungsenergien des Jugendstils neu erwachen lassen: Das Ergebnis waren Häuser, die sofort als „typischer Baller“ zu erkennen sind – mit wild aufschwingenden Balkonen, spitzen Ecken, viel Verglasung und tiefen Fenstern. Sie hätten „immer das Außen mitgedacht“, sagte seine damalige Frau Inken einmal, „den Bezug zur Straße, denn so wurde ja in Berlin viel gebaut, mit Balkonen und Erkern“.

 Hinrich und Inken Ballers Torhaus am Fraenkelufer Ecke Admiralstraße verfügt über Luftgeschosse und nach oben gebogene, spitze BalkoneSeine Berliner Bauten stechen ins Auge: Hinrich und Inken Ballers Torhaus am Fraenkelufer Ecke Admiralstraße verfügt über Luftgeschosse und nach oben gebogene, spitze Balkonedpa

Man kann tatsächlich sagen, dass die Ballers mit Bauten wie der Wohnanlage in Charlottenburgs Schlossstraße die verlorengegangene Opulenz der Berliner Gründerzeitbauten mit ihren ornamentierten Fassaden, vorspringenden Erkern und durchlichteten Räumen neu interpretiert haben. Dass das trotz enger Budgets auch im sozialen Wohnungsbau möglich ist, zeigte ihr Baukomplex für 193 Familien in Lichtenberg. Was dem Erfinder des Massenwohnungsbaus, dem Sozialutopiker Charles Fourier vorschwebte, ein opulenter Palast für die Arbeiter, war auch ein Anliegen der Ballers: Großzügigkeit für alle.

Außer dem Philosophischen Institut der Freien Universität, zwei Kitas, zwei Sporthallen und etlichen Wohnbauten, mit denen das Paar die Architektur Berlins prägte, gilt das Haus am Kreuzberger Fraenkelufer, der für die Internationale Bauausstellung 1984/87 entstand, als Ballers Meisterwerk. Seine Balkone erinnerten die einen an Tragflächen, die anderen an schwebende Flügel – jedenfalls waren es Balkone, die überhaupt an mehr erinnern konnten als an eine aus der Fassade herausgezogene Schublade, in der rauchende Menschen sitzen können. Die Krümmung der Balkone war dann aber doch funktionalistischer, als sie aussah, denn die vorzackende Auskragung sorgte für einen viel besseren Sichtschutz nach unten.

Alles ist Bewegung in seinen Bauten

Typisch Baller waren auch die mintgrünen Balkongitter, deren feine Linien mal wie aus filigranen Ästen gelegt wirkten und mal so, als habe sie das Paar in einer längeren Session auf den Zeichenblock getanzt. Alles war Bewegung in diesen Bauten, nichts durfte eckig oder kartoniert wirken. Nicht jeder mochte die extrovertierte Mischung aus Jugendstil, Eurythmie und Beatkultur, aber unbestritten hat das Innere dieser Bauten große Qualitäten. Die großen Fenster lassen viel Licht ins Haus, gläserne Innenwände leiten es tief ins Innere. Küchen und Grundrisse sind offen, die Raumfolgen entwickeln sich oft über mehrere Etagen als flexibel nutzbare Wohnlandschaften, durch die man wie durch einen Wald über Lichtungen spaziert und über kleine Treppen klettert.

Die neuen Baufunktionalisten, die in Panik trostlose Wohnkuben auf Baufelder würfeln, um das Plansoll zu erfüllen, sollten sich einmal anschauen, wie opulent und menschenfreundlich sozialer Wohnungsbau sein konnte. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Hinrich Baller am 23. Juli im Alter von 89 Jahren gestorben.

Gesamten Artikel lesen