Amoklauf in Graz: Welchen schmerzlichen Erkenntnissen sich Österreich nun stellen muss

vor 19 Stunden 1

Langsam wird klar, was bei dem Amoklauf am Dienstag in Graz genau passiert ist. Wer die zehn Opfer waren, neun Jugendliche zwischen 14 und 17, und eine Lehrerin, 59 Jahre alt. Wie die Tat ablief. Demnach hat der 21-jährige Täter, ein ehemaliger Schüler des Bundesoberstufenrealgymnasiums Dreierschützengasse, kurz vor zehn Uhr das Gebäude betreten, auf einer Toilette eine Pistole und eine Schrotflinte aus einem Rucksack genommen und dann im zweiten Stock wahllos geschossen. Etwa 400 Jugendliche befanden sich in der Schule, die, so die Polizei, sehr gut reagiert habe. Klassenzimmer wurden verriegelt, Jugendliche und Lehrkräfte versuchten, sich zu verschanzen. Das schnelle Eintreffen der Einsatzkräfte hat offenbar weitere Taten verhindert, der 21-Jährige beging Suizid. Dem Leiter des steirischen Landeskriminalamts zufolge hätte er noch genügend Munition gehabt, um den Amoklauf fortzusetzen.

Vor allem aber steht inzwischen ein schwerwiegender Verdacht im Raum. Wurden im Umfeld des Täters Warnzeichen übersehen, hätten gar die Behörden früher einschreiten können? Man weiß von vielen Schulamokläufen, wie akribisch sich Täter vorbereiten. Dass sich bereits lange vor der Tat die Anzeichen mehren, dass da jemand in einem Ausnahmezustand Zugang zu Waffen hat. Auch in Graz war das so. Der junge Mann musste sich 2021 beim Bundesheer – in Österreich gibt es eine allgemeine Wehrpflicht – einem Eignungstest unterziehen. Er wurde aus psychischen Gründen als untauglich für den Wehrdienst befunden.

Dennoch bekam er in diesem Frühjahr eine Waffenbesitzkarte ausgestellt. Diese braucht man, um eine Pistole kaufen zu dürfen. Man muss sich dafür einer psychologischen Begutachtung unterziehen, die der 21-Jährige problemlos bestand. Dies sagt nicht nur einiges über die Qualität der Überprüfung aus, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf das überaus freizügige österreichische Waffenrecht. So gut wie jeder über 18 kann sich hier ohne besondere Voraussetzungen eine Schrotflinte oder ein Jagdgewehr zulegen. Absurdes Detail am Rande: Dass der spätere Amokläufer vom österreichischen Bundesheer als untauglich für den Dienst an der Waffe befunden wurde, hatte keinen Einfluss auf seine Berechtigung, Waffen zu besitzen. Wer den Wehrdienst hingegen aus Gewissensgründen verweigert und stattdessen Zivildienst leistet, bekommt für 15 Jahre ein Waffenverbot auferlegt.

Dazu kommt offenbar, dass sich der Täter seit längerer Zeit auffällig verhielt. Er hatte kaum Sozialkontakte, spielte in exzessiver Weise Ego-Shooter-Spiele und machte in den sozialen Medien Anspielungen auf frühere Schulmassaker, ein Verhaltensmuster, das sich bei vielen Schulamokläufern ähnelt. Und er trainierte den Gebrauch seiner Waffen in einem Schützenverein. Dabei fiel er zwar als empathielos und seltsam auf, doch auch hier wurden die Anzeichen nicht richtig gedeutet.

In Deutschland ist man da traurigerweise schon weiter. Da haben die Schulamokläufe 2002 in Erfurt und 2009 in Winnenden dazu geführt, dass sich Experten mit den Verhaltensmustern von Tätern beschäftigen und Schlüsse daraus ziehen mussten. Inzwischen wurde die psychosoziale Betreuung an Schulen ausgebaut, Schulpsychologinnen und -psychologen sollen verstärkt auf Warnzeichen achten und dabei den Worst Case in Betracht ziehen. Auch das Waffenrecht wurde verschärft, wenngleich dies vielen noch nicht weit genug geht. Diesen schmerzlichen Erkenntnissen wird sich Österreich nun ebenfalls stellen müssen.

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