Das Verfolgen purer Chronologien ist ein nüchternes Geschäft. Trotzdem kann es augen- und ohrenöffnende Erlebnisse bringen. So etwa, wenn man sieht und begreift, dass Alfred Brendel ein Generationsgenosse solcher bereits lange wohlversiegelt in der Vergangenheit abgelegter Pianistenkollegen wie Friedrich Gulda und Glenn Gould war, während andere Persönlichkeiten wie Maurizio Pollini, Daniel Barenboim oder Martha Argerich noch aktiv blieben, als Brendel sich schon vom Konzertpodium – aber nicht vom öffentlichen Vortrag – zurückgezogen hatte. Auch die Kollegen, die ihn aktiv überdauerten, mögen inzwischen ins Jetzt hineinragen wie aus tiefer Vergangenheit, sind aber eine halbe Generation jünger und gehören damit schon wieder einer anderen Zeitrechnung an, wohingegen Brendel nur wenige Jahre jünger als die bereits verstorbenen Kollegen Jörg Demus und Paul Badura-Skoda gewesen war.
Vor allem der Vergleich mit dem längst Legende gewordenen Gould scheint das Absurde zu streifen: Die beiden sollten sozusagen nebeneinander gespielt und die gleiche Luft vergleichbarer Hörerschaften und Musikmärkte geatmet haben? Tatsächlich hat Brendel ja nie die ans extravagant Manieristische streifende spielerische Leichtigkeit des kanadischen Paradiesvogels besessen, wirkte in Live- wie Studioaufnahmen viel weniger ausgestellt und demonstrativ. Aber dann hört man frühe Aufnahmen wie die der Diabelli-Variationen und Bagatellen-Zyklen Ludwig van Beethovens aus dem Jahr 1964 und staunt über eine kesse, manchmal geradezu schnippische Frische und einen direkt-deftigen Zugriff, die doch irgendwie mit seinem transatlantischen Kollegen zu korrespondieren und andererseits weit vom Bild jenes fein abgestuften, durchlichteten, klassizistisch maßvollen und lyrisch überglänzten Spiels entfernt scheinen, das dann für seine großen Jahrzehnte – die Siebziger- bis Neunzigerjahre – prägend wurde.
Der Traum einer harmonischen Welt
Es sind jene Jahre, in denen er beispielsweise mit Neville Marriner und der Academy of Saint-Martin-in-the-Fields sukzessive sämtliche Klavierkonzerte von Wolfgang Amadé Mozart einspielte: schon damals neben der andrängenden historisch orientierten Praxis (deren Legitimität Brendel selbst vehement bezweifelte) nicht mehr der letzte aufführungspraktische Schrei, aber in ihrer Ausgewogenheit, ihrer sanft melancholischen Romantik und Gelassenheit der klingende Traum einer harmonischen, aufklärerisch geordneten Welt. Und es waren die Jahre, in denen er sich die Musik von Franz Schubert erschloss. Vielleicht hat Brendels Wendung zu einem stillen Konservatismus, der gleichwohl rhetorisch durchaus meinungsstark-kämpferisch, gelegentlich rechthaberisch auftreten konnte, mit dieser Schubert-Begegnung zu tun. Freilich zog sie zunehmend auch ein immer enger umgrenztes Repertoire nach sich, das große und wichtige Teile der Klavierliteratur ausschloss.
Leuchtende Wärme für Schubert
Beethoven, dessen Metronomangaben in der Hammerklaviersonate er für nicht realisierbar hielt, hatte er sich enzyklopädisch erschlossen und dabei zum Beispiel die 32 Klaviersonaten über mehr als dreißig Jahre hinweg dreimal komplett – zuletzt Mitte der Neunzigerjahre – eingespielt; doch die leuchtende Wärme, die komplette Entgrenzung in einen Raum tief verletzlicher und trauriger, schmerzlich vergänglichkeitsbewusster und gleichzeitig traumfern-utopisch geöffneter Schönheitsversessenheit hinein – sie gehörten bei ihm in dieser Intensität einzig und allein Franz Schubert. Mit ihm ist Alfred Brendels Spiel auch zum womöglich letzten musikalischen Nachklang jenes melancholisch todesnahen, festlich absturzbewussten und auch etwas nostalgisch-mürben Wiener Geistes einer spätbürgerlichen Zeit geworden, obwohl Brendel selbst gar kein Wiener war, sondern 1931 in Nordmähren zur Welt gekommen war, in Kroatien aufwuchs und, seinem kosmopolitischen Naturell folgend, seit 1970 in London lebte.
2008 hatte sich der Pianist, souverän bei aller leisen Wehmut, von den Konzertpodien zurückgezogen und sich seitdem der schon lange parallel betriebenen Essayistik, Lyrik und nunmehr verbalen Vortragskunst zugewandt, womit er bis zuletzt sein ergebenes Publikum fand. Vielleicht nahm er selbst diese – arbeitsrechtlich gesprochen – „Nebentätigkeiten“ ernster, als man sie ihrem sachlichen und erkenntnisfördernden Wert nach tatsächlich nehmen muss. Aber sie sind auch Ausdruck eines tiefen Strebens nach Universalität und All-Einheit, einem humanistischen Ganzen, das in der gegenwärtigen Ära auseinanderbröckelnder Diversitäten selten, wenn nicht sogar schon unauffindbar geworden ist. Man möchte dem Künstler darin in einer Zeit, wo alles traditionell Bildungsbürgerliche – noch kann man sagen: hoffentlich nicht endgültig – den Bach hinunterzugehen droht, unentwegt recht geben. Direkt vernehmen kann er es freilich nicht mehr: Am Dienstag ist Alfred Brendel, vierundneunzigjährig, in seinem Londoner Haus gestorben.