Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web, wird 70

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Bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in London im Jahr 2012 ehrte man den Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee, und der Mann setzte im Stadion einen Tweet ab, der sein durchaus kompliziertes Herz der ganzen Welt öffnete: „This is for everyone“. Mit „this“ gemeint war im Kern sein Werk, das World Wide Web, genauer: die erleuchtete Dyade aus einerseits dem Hypertext-Übertragungsprotokoll HTTP, das uns erlaubt, Webseiten auf einen Browser zu laden, und andererseits der Auszeichnungssprache HTML, die uns ermöglicht, Dokumente unter Einbeziehung von Bildern, Links zu anderen Dokumenten sowie Gott weiß was noch zu ordnen.

Die Zwanglosigkeit und Experimentierwilligkeit der digitalen Pionierepoche in den Spätachtziger- und Frühneunzigerjahren, vor rund einem Menschenalter, steht, blickt man heute auf sie zurück, in schrillem Kontrast zu der so oft gleichermaßen öden wie gehetzten Metadaten-Fummelei, zu der uns der Datenverarbeitungszweck allseitiger Maschinenlesbarkeit sämtlicher Netzinhalte inzwischen treibt. „Tim, dieses Hypertext-Ding, hast du das inzwischen zusammengeschrieben?“ sei er kurz nach seiner ersten Eingabe in dieser Sache im europäischen Kernforschungszentrum CERN gefragt worden, berichtet Berners-Lee, und er habe kurzweg geantwortet: „Okay, dann mache ich das jetzt eben!“

Wie das „Netz“ zu seinem Namen kam

Das beabsichtigte Resultat wollte er zunächst „mesh“ nennen, was irgendwie „Netz“ heißt, aber eher im Sinne von Maschendrahtgeflecht. Weil ihm diese Wortschöpfung schließlich doch zu „meshy“ (ein Wortspiel: „messy“, unordentlich, aber mit feuchter Aussprache) gewesen sei, habe er sich für „Web“ entschieden (und leider nicht, schön größenwahnsinnig , für „Intergalactic Computer Network“, wie ein Wegbereiter Berners-Lees, der Internet-Pionier J.C. R. Licklider, eine ähnliche Idee schon Anfang der Sechzigerjahre getauft hatte).

An der Verwirklichung seines Konzepts arbeitete der Meshmeister unter Verwendung eines aus der Steve-Jobs-Welt hervorgegangenen NeXT-Computers, an dessen Gehäuse der spätmoderne Dädalus einen Zettel mit der Aufschrift „This machine is a server. DO NOT POWER IT DOWN“ klebte. Mit Herrn Jobs und Bill Gates teilt Berners-Lee das Geburtsjahr 1955; irgendwas hing da wohl in der Luft, in London gerade so suggestiv wie in Seattle und San Francisco. Als Ferienjobber in einem Sägewerk fand der junge englische Schaltkreisbastler einen Schrottrechner im Müll und päppelte ihn zur Funktionsfähigkeit zurück; Geräte behandelt er seitdem als offene Fragen, die wir beantworten können, wenn es nur gelingt, diese Fragen genau genug zu formulieren. Aber steckt in jeder Frage eine Antwort? Das zu vermuten, lernte der Web-Erfinder als Kind beim Lesen einer gedruckten Enzyklopädie von Praxishinweisen (Wie heilt man Kopfweh? Wie begräbt man Menschen?), deren Erstausgabe 1856 in London unter dem so hochpragmatischen wie weltumfassenden Titel „Enquire Within upon Everything“ erschien und seither in mehreren Überarbeitungen immer wieder neu aufgelegt wurde, so dass man eher von einer Buchreihe als von einem Buch sprechen sollte (wie bei der deutschsprachigen Wälzerserie „Das Neue Universum“).

Berners-Lee taufte einen Web-Vorläufer nach diesem für ihn prägenden Werk „ENQUIRE“ und verbindet noch als reifer Mann nach eigenen Worten „Magie“ damit, nämlich „ein Portal zu einer Welt des Wissens“. Solcherlei Literatur ist dem Wesen nach optimistisch, sie aktiviert massive Problemlösungszuversicht und bereitet daher leider nicht gut auf unbeabsichtigte Schadensfolgen neugiergetriebener Projekte vor. Man findet in ihnen also auch keine Wörter, die etwa beschreiben könnten, wie sich die Informatik heute von fantasielosen, aber profitgierigen Konzerntölpeln in ihre Zaubertränke pinkeln lässt („innovatöricht“ vielleicht?).

Worüber wir nicht nachdenken können, das erleben wir auch gar nicht erst

Das Gedeihen des von Berners-Lee erschlossenen Netzes sucht er im Vorstand des World Wide Web Consortium gemeinsam mit anderen Wohlmeinenden, darunter auch verständigen Wirtschaftsleuten, nach wie vor behutsam anzuleiten. Derweil tummeln sich auf Netzbahnen heute blöde Bots auf der Suche nach Trainingsdaten für KI-Modelle und machen mit ihrem wirren Betrieb gelegentlich wertvollste Datenbanken unbenutzbar (so geschah das jüngst der Bild-Bibliothek DiscoverLife mit ihren vielen Millionen Fotos, nach unzähligen täglichen Anfragen derartiger Bots).

In Deutschland wirbt an Bushaltestellen derzeit ein Unternehmen mit Internetnutzung „ohne kompliziert“. 1990, als Berners-Lee den ersten Webserver unterm Namen nxoc01.cern.ch fertig hatte (im Todesjahr J.C.R. Lickliders übrigens), mag er gedacht haben, die Vernetzung werde uns von stumpfsinniger Einzelheitensammelei befreien und unser Übersichts-Verstehen aufblühen lassen – und damit, wer weiß, auch die Sprache, mit der wir uns übers Verstehen verständigen. Stattdessen aber verarmt genau diese Sprache im Gelall auf Myriaden Plattformen; bald ist sie womöglich komplett „ohne kompliziert“, auf dem von Oligopolen angestrebten Niveau „Kaufbefehl und Arbeitsgehorsam“. Erkenntnisoptimismus träumt daher heute, soweit es ihn noch gibt, statt von Programmen eher von einer Jugendbewegung, in der sich Menschen „Dieser Kopf enthält ein Hirn. NICHT ABSCHALTEN“ auf die Stirn tätowieren.

Wer tödlich mittelmäßige „Zusammenfassungen“, von Dummbots aus vorhandenen Dokumenten gepresst, ertragen kann, mag Feste der Zeitersparnis feiern, so lange der Zivilisationsrahmen dafür noch hält. Es mögen sogar runde Geburtstage darunter sein; aber ein Leben ist das nicht, denn worüber wir nicht nachdenken können, das erleben wir auch gar nicht erst. Tim Berners-Lee aber will immer noch unbedingt wissen, wie man Wissen (nicht nur technisch) organisieren kann und soll. Am morgigen Sonntag wird er siebzig Jahre alt.

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