Die BMW-Leute zeichnen ein düsteres Bild. „Wir können unsere Strategie nicht darauf aufbauen, dass Länder wie Ungarn und Italien in Sachen E-Mobilität den Hebel umlegen“, sagt einer der Vertreter aus der politischen Abteilung des Autokonzerns im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Er räumt zwar ein, dass es in Sachen E-Autos und Ladesäulen in Mailand besser aussehe als in Palermo, das ändere aber nichts am Gesamtbefund: „Die Regulierung über die Emissionen am Auspuff scheitert am Kunden.“ Die Menschen würden sich nicht zum Umstieg auf das E-Auto zwingen lassen.
Mehrheitsverhältnisse in der EU haben sich geändert
Das sogenannte Verbrennerverbot 2035 habe ohnehin vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron vorangetrieben, um der heimischen Autoindustrie im Wettbewerb mit den deutschen Herstellern unter die Arme zu greifen. Aber die damalige rot-grüne-gelbe Mehrheit im Europäischen Parlament (EP) sei weg. Jetzt würden die konservative EVP und die verschiedenen Rechtsparteien Druck machen, die CO₂-Regulierung zu kippen. „Muss dann in zwei Jahren der Klimaschutz dran glauben? Das ist nicht in unserem Interesse“, versichert einer der BMW-Vertreter.
Genau wie der Verband der Automobilindustrie (VDA) in seinem umstrittenen Zehn-Punkte-Plan betont auch der Münchner Autobauer, man stehe zu den Pariser Klimazielen. Weil die Kunden aber nicht so mitziehen würden wie bei den EU-Beschlüssen 2021 von Macron & Co. gedacht, müsse man jetzt umsteuern. „Sonst schrumpft der Automarkt 2035 um diejenigen, die partout nicht elektrisch fahren wollen“, sagt ein BMW-Vertreter.
30
Prozent der Käufer von Neuwagen sind die Verweigerer, die sich kein E-Auto kaufen werden, sagt ein BMW-Vertreter.
Um E-Autos in den Markt zu drücken, habe die Bundesregierung „viel Geld über Doppelgaragen abgeworfen“, um zumindest einen Anteil von zehn Prozent an den Neuzulassungen zu schaffen. Die nächsten 50 bis 60 Prozent ließen sich nur über deutlich bessere Rahmenbedingungen erreichen. „Aber die letzten 30 Prozent sind Verweigerer. Nur: Geht davon die Welt unter?“
Ist die Lebenszyklusanalyse aussagekräftiger?
BMW und andere Autobauer arbeiten seit einiger Zeit in Abstimmung mit dem VDA und dem europäischen Herstellerverband Acea daran, die CO₂-Flottengrenzwerte perspektivisch durch die Lebenszyklusanalyse (Life Cycle Assessment, LCA) zu ersetzen.
Die Analyse ist eine Methode zur Bewertung der Umweltauswirkungen eines Fahrzeugs über seine gesamte Lebensdauer. Sie betrachtet nicht nur die direkten Emissionen während der Fahrt, sondern auch die indirekten Emissionen, die bei der Herstellung, dem Betrieb und der Entsorgung des Fahrzeugs sowie bei der Produktion der benötigten Energie und Materialien entstehen.
Erste Schritte in Richtung LCA zum Beispiel über Biokraftstoffe sollten in den nächsten Jahren gemacht werden, sagt einer der BMW-Vertreter. „Die Mineralölindustrie hat bisher praktisch keinen Dekarbonisierungspfad.“ Und dann sollte der Systemwechsel für 2035 beschlossen werden. „Die EU sollte nicht kleine Nachbesserungen vornehmen und das Problem der nächsten Kommission überlassen.“ Man spreche bereits mit der Generaldirektion Klima und verschiedenen Bundestagsabgeordneten.
Die einseitige Fokussierung auf Elektromobilität ist nicht ausreichend, um dem Klimawandel effektiv zu begegnen.
Jens Gieseke, EU-Abgeordneter (CDU)
Einer der wichtigsten Verfechter der LCA bei Pkw ist der deutsche EU-Abgeordnete Jens Gieseke (CDU). Auf Anfrage des Tagesspiegels sagt er: „Wir erleben gerade, dass die einseitige Fokussierung auf Elektromobilität nicht ausreichend ist, um dem Klimawandel effektiv zu begegnen. Dafür brauchen wir alle uns zur Verfügung stehenden Technologien.“ Die global agierenden Autokonzerne würden auch in Zukunft Verbrenner herstellen und verkaufen. Er wolle, dass diese Fahrzeuge in Deutschland und Europa produziert werden. Dafür brauche es den richtigen gesetzlichen Rahmen. „Setzen wir diesen nicht, drohen uns weitere Werksschließungen und Wohlstandsverluste“, so Gieseke.
„Die Lebenszyklusanalyse ist für mich ein Schlüssel für die faire Bewertung der Emissionen von unterschiedlichen Antriebsarten“, sagt er weiter. „Wir haben der Kommission unter der CO₂-Gesetzgebung für Pkw bis zum 31. Dezember dieses Jahres Zeit gegeben, eine Methodik für die Berechnung von Lebenszyklusemissionen zu entwickeln.“ Eine Sprecherin der EU-Kommission sagt das zu. Im Bundesumweltministerium heißt es, Minister Carsten Schneider (SPD) lasse auf EU-Ebene nicht an der CO₂-Flottenregulierung rütteln. Eine Aufweichung der Klimaziele via LCA lehne er ab.
Weltweiter Standard durch die Vereinten Nationen
Grundsätzlich für LCA ist der Autoindustrieverband VDA. Sein Sprecher sagt, es gebe sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene verschiedene Initiativen, die darauf abzielen, die Berechnungsmethode für LCA von Fahrzeugen zu standardisieren. Das berge aber das Risiko eines methodischen Flickenteppichs, der inkonsistente Anreize für eine Dekarbonisierung und einen hohen Mehraufwand für die Autohersteller und Zulieferer nach sich ziehe. Um dies zu verhindern, sei ein weltweit harmonisierter Standard durch die Vereinten Nationen erforderlich.
Die Umweltverbände haben dagegen die Sorge, dass die Lebenszyklusanalyse als Vehikel genutzt wird, um Verbrennern einen Vorteil gegenüber rein-elektrischen Pkw (BEV) zu verschaffen. Lucien Mathieu von Transport & Environment sagt: „Die EU-Kommission sollte sich darauf konzentrieren, ein einfaches, harmonisiertes CO₂-Label zu entwickeln, statt ein neues Bürokratiemonster zu schaffen.“ Es sollte saubere, lokal hergestellte E-Autos belohnen.
Dass die Autobauer verstärkt auf den Verbrenner setzen, hat vor allem betriebswirtschaftliche Gründe. Das Kalkül, durch eine Umstellung auf die LCA Benziner, Diesel und Plug-in-Hybride (PHEV) als weniger klimaschädlich im Vergleich zum BEV zu definieren, wird jedoch nicht aufgehen.
Sowohl der Verein Deutscher Ingenieure als auch der Automobilclub ADAC stellte fest, dass rein-elektrische Pkw auch in der Gesamtbetrachtung am besten abschneiden.
Der ADAC vergab unter allen Autos, die 2024 nach dem Standard Green NCAP fünf Sterne erhalten hatten, einen neuen Life Cycle Assessment Award. Ausgezeichnet wurden Fahrzeuge mit Treibhausgasemissionen über den gesamten Lebenszyklus von maximal 100 Gramm CO₂-Äquivalent pro Kilometer. Von allen Fahrzeugtypen schafften das nur fünf rein-elektrische Pkw: Opel Corsa, Jeep Avenger, Tesla Model 3, Hyundai Kona und BYD Dolphin.