In persönlichen Jahresrückblicken berichten SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteure, welche Texte sie 2025 besonders beschäftigt haben.
Zum Thema Scheinselbstständigkeit recherchiere ich für den SPIEGEL seit mehreren Jahren. Auch aus persönlicher Erfahrung: Denn meine erste Dekade im Journalismus habe ich fast vollständig in sozialversicherungsrechtlichen Graubereichen verbracht.
Teils sechsstellige Nachzahlungen
Ich arbeitete als freier Mitarbeiter für Lokalredaktionen. Hatte keine dienstliche Mailadresse, nahm nicht an Konferenzen teil, tauchte in der Blattplanung nicht auf und hatte beizeiten andere Auftraggeber. Ich arbeitete viel, war aber – so heißt es im Behördenjargon – nicht in Betriebsabläufe eingebunden. Genau das war gewollt. Die Lokalzeitungen wollten mich nicht fest anstellen, um keine Beiträge zur Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung für mich zahlen zu müssen.
Für beide Seiten war das bequem. Ich, damals Student mit Freiheitsdrang, wollte ohnehin keinen festen Job. Und die Redaktion konnte mich einsetzen und bezahlen, wenn sie mich brauchte. Ein Modell, das für viele Unternehmen wie Freiberufler über Jahre gut funktionierte.
Aber diese Zeiten sind vorbei.
»Für das Bundessozialgericht ist heute nicht mehr entscheidend, wie intensiv jemand in einen Betrieb eingebunden ist«, sagt Ralf Leiner, Fachanwalt für Arbeitsrecht mit Schwerpunkt Sozialversicherungsbeitragsrecht aus Bielefeld. »Entscheidend ist, ob jemand Teil der Leistungskette ist .« Wer also in irgendeiner Form zur Wertschöpfung eines Unternehmens beiträgt, läuft mittlerweile fast unabdingbar Gefahr, nicht länger als selbstständig zu gelten. Ganz gleich, wie frei das Vertragskonstrukt auch gestaltet ist.
Für Unternehmen heißt das: Rechtssicherheit gibt es praktisch nur noch durch Festanstellung. Andernfalls drohen den Firmen Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen – für das laufende Jahr und rückwirkend für bis zu vier weitere Jahre. Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile. Im schlimmsten Fall zuzüglich Säumniszuschlägen. Da kommen schnell sechsstellige Beträge zusammen. Fällig binnen weniger Wochen.
Die Folgen dieser Rechtsprechung können Existenzen bedrohen. Klempnerbetriebe ebenso wie Yogastudios, deren Geschäftsmodell häufig darauf fußt, Trainerinnen und Trainer flexibel auf Honorarbasis einsetzen zu können. Entsprechend vielfältig sind die Fälle, die bei Sozialrechtlern wie Leiner landen: Busfahrerinnen, Fitnesstrainer, Pilotinnen, Baristas, Barkeeper. 2024 gab es in Deutschland laut dem Institut für freie Berufe mehr als 1,4 Millionen Selbstständige in freien Berufen. Mit einigen von ihnen sprach ich für diese Geschichte . Ihre Erfahrungen gleichen einander.
»Was die Sozialgerichte derzeit durchsetzen, führt zur Vernichtung unzähliger Existenzen«, sagt Leiner. Und spült Geld in leere Sozialkassen .
55.000 Protest-Unterschriften – und neue Probleme
Für besonderes Aufsehen sorgte das sogenannte Herrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Juni 2022. Es verschärfte die Kriterien zur Abgrenzung von Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung weiter. Eine Petition zweier selbstständiger Yogalehrerinnen gegen die Pflicht zur Festanstellung sammelte mehr als 55.000 Unterschriften.
Der Gesetzgeber reagierte spät darauf. Im Februar 2025 stimmte der Bundesrat einer Übergangsregelung für selbstständige Lehrtätigkeiten auf Honorarbasis zu. Für einen Großteil der Lehrer wird die Sozialversicherungspflicht wegen einer abhängigen Beschäftigung bis zum 1. Januar 2027 ausgesetzt. Das Problem wird damit nur vertagt. Es betrifft sehr viele Menschen: Allein im Weiterbildungsbereich arbeiten rund 400.000 Honorarkräfte .
Scheinselbstständigkeit in freien Berufen
Doch die Lösung schafft neue Baustellen. Der Jurist Leiner hält diese Übergangsregelung zudem für verfassungsrechtlich bedenklich, weil sie einzelne Berufsgruppen ohne sachlichen Grund schlechter stellt. Außerdem kann sie in der Praxis zu einem handfesten Konflikt zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer führen, den die Politik durch die Regelung erst geschaffen hat. Denn: Sofern der Auftragnehmer im Rahmen der Übergangsregelung einer selbstständigen Tätigkeit zustimmt, erspart er seinem Auftraggeber die Nachzahlung des (Gesamt-)Sozialversicherungsbeitrags. Gut für die Firma, schlecht für die Honorarkraft: Er selbst gilt dann aber automatisch als selbstständig – und muss Rentenversicherungsbeiträge zahlen.
Genau das führt nun dazu, dass viele der durch die Übergangsregel geschützten Lehrerinnen und Lehrer Post von der Deutschen Rentenversicherung bekommen: Sie sollen Beiträge nachzahlen. Für viele Betroffene ist das frustrierend. Im höheren Alter erreichen sie oft ohnehin nicht mehr die nötigen Beitragsjahre, und ihre Altersvorsorge haben sie oftmals längst anders organisiert. Die wenigen Rentenpunkte, die sie durch die zusätzlichen Zahlungen noch erwerben könnten, sind da nur ein schwacher Trost.
»Einer ist so immer der Dumme«, sagt Leiner. Entweder der Auftraggeber, wenn er Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen muss – oder die Lehrkräfte, die für die Rente einzahlen sollen, teilweise ohne wirklich etwas davon zu haben. »Am Anfang waren alle froh über die Übergangsregelung. Jetzt zeigen sich die Folgeprobleme«, so Leiner.
Bis Ende 2026, so der Arbeits- und Sozialrechtler, werde längst nicht jede Schule ihre Honorarkräfte fest anstellen können. »Wie sollten sie das auch stemmen?« Der Staat, sagt Leiner, ducke sich weg und vertage das Problem einfach weiter.
Es fehlt ein klarer Kriterienkatalog, der Rechtssicherheit schenkt. Dagegen arbeiten Gerichte und Gesetzgeber seit Jahren an. Zum Leidwesen von Millionen Freiberuflern und Auftraggebern.

vor 2 Stunden
1








English (US) ·