Am Freitag wurde Lisa Nandy ausgeschickt, um Premierminister Keir Starmer zu verteidigen. Nandy ist britische Kulturministerin, die Regierung wählt täglich Minister oder Staatssekretäre, die in den morgendlichen Fernseh- und Radiorunden Interviews zu gerade anliegenden Themen geben. Am Freitag ging es, mal wieder, um Elon Musk beziehungsweise um diese Frage, angesichts der neuen Entwicklungen von Donnerstag im Unterhaus: Ob sich Starmer und die Labour-Regierung in ihrer Arbeit zu sehr von Social Media leiten lassen?
Natürlich nicht, sagte Nandy entschieden, ganz im Gegenteil: „Wir regieren nicht für Social Media, wir regieren für die echte Welt.“ Lisa Nandy, 45, ist selbst aktive Social-Media-Nutzerin, ihren Twitter-beziehungsweise X-Account gibt es seit 16 Jahren. Sie weiß also wohl, dass es so einfach nicht ist. Die Grenzen zwischen der echten und der virtuellen Welt sind längst verwischt, und was das heißen kann, war eben am Donnerstag im Unterhaus zu beobachten.
Musks Lieblingsrolle als Kommentator europäischer Politik
Nandys Kabinettskollegin Yvette Cooper, Innenministerin, gab am späten Donnerstagnachmittag ein Statement ab, in dem sie darlegte, was die britische Regierung in Sachen „grooming gangs“ unternehmen werde. „Grooming gangs“ sind kriminelle Banden, die Minderjährige sexuell missbrauchen und zum Missbrauch verkaufen.
2011 deckte die Times auf, dass solche Banden über Jahre hinweg an zahlreichen Orten in England Kinder missbrauchten, ohne von der Polizei gestoppt zu werden; die meisten Täter hatten einen pakistanisch-britischen Hintergrund. Sie habe ein „urgent national review“ angeordnet, sagte jetzt also Cooper, eine dreimonatige Überprüfung möglichst aller dieser Fälle. Dafür stelle sie der Polizei und der Untersuchungskommission 2,5 Millionen Pfund zur Verfügung. Es war bereits Coopers zweite Erklärung im Unterhaus in der Sache, seit Elon Musk auf seiner Plattform X damit begonnen hat, mit kruden Behauptungen Starmer und seine Regierung unter Druck zu setzen.
Die Überprüfung sei „ein Schritt in die richtige Richtung“, schrieb Musk nun, ganz in seiner neuen Lieblingsrolle als Kommentator europäischer Politik. Die Tories hingegen fordern weiterhin eine „public inquiry“, also eine groß angelegte Untersuchung durch die Regierung, ganz in ihrer neuen (eher ungeliebten) Rolle als Oppositionspartei, aber immer noch einem alten Verhaltensmuster folgend. Der „Inquiry“-Ruf ist insbesondere in den Jahren der konservativen Regierung zu einer politischen Standardantwort auf alles geworden, was schiefgelaufen ist.
Whatsapp-Nachrichten aus Downing Street No. 10
„Public inquiries“ sind ein wichtiges Instrument im Vereinigten Königreich, seit der „Inquiries Act“ 2005 gesetzlich verankert wurde. Er besagt, dass Regierungsminister Untersuchungen in Auftrag geben können, wenn sie von „großem öffentlichen Interesse“ sind. Dazu gehörten zum Beispiel die Vorgehensweisen während der Pandemie, oder auch der Post-Office-Horizon-Skandal um ein fehlerhaftes Computersystem bei der Post. Und vieles mehr:40 solcher Untersuchungen wurden seit 2005 veranlasst, 27 davon seit 2014. Derzeit laufen noch 17, einige schon seit Jahren.
Umfragen besagen, dass die Mehrheit der Briten diese Untersuchungen befürwortet, auch wenn sie viel Geld kosten. Die Kosten für den Steuerzahler allerdings sind exorbitant, sie haben längst die Milliardengrenze überschritten. Umgerechnet gab die britische Regierung allein in den vergangenen zehn Jahren jedes Jahr deutlich mehr als hundert Millionen Euro für diese gesetzlich gestützten „inquiries“ aus.
Die Untersuchungen sind keine Gerichtsverfahren, sie werden aber oft von ehemaligen Richtern geleitet und mit beeindruckender Akribie durchgeführt. Zahlreiche Zeugen werden gehört, Dokumente und anderes Beweismittel werden herangezogen; in der (noch immer laufenden) Untersuchung zur Pandemie etwa musste auch Ex-Premier Boris Johnson schon aussagen, dabei wurden ihm Whatsapp-Nachrichten aus No. 10 vorgelesen. Die Zeugen werden durch Immunität geschützt, dafür können sie eine Vorladung allerdings auch nicht ablehnen. Am Ende stehen immer Empfehlungen für die Regierung. Nur, Empfehlungen sind auch nicht mehr als Vorschläge, die man ignorieren kann.
Der Untertitel: „Wie bösartige Akteure versuchen, die Demokratie zu untergraben“
Was das für die Effizienz bedeutet, dafür ist die Untersuchung zum „Grooming Gangs“-Skandal ein gutes Beispiel. Während der damalige Chef der Strafverfolgungsbehörde, Keir Starmer, seine Behörde reformierte und damit letztlich zahlreiche Verhaftungen erwirkte, gab der damalige Tory-Premierminister David Cameron eine „public inquiry“ in Auftrag. Sieben Jahre und drei Premierminister später stellte die Kommission 2022 unter Leitung der schottischen Universitätsprofessorin Alexis Jay ihren 468-seitigen Bericht vor. Der Schriftsatz der Beweise umfasste zwei Millionen Seiten, die Kosten allein für diese Untersuchung betrug 186 Millionen Pfund, umgerechnet 220 Millionen Euro. Der Bericht schloss mit 20 Empfehlungen. Davon akzeptierte die Tory-Regierung 18, setzte allerdings keine einzige um.
Auch deshalb lehnt Starmer, inzwischen selber Premierminister, eine weitere „public inquiry“ in dem Fall ab. Sie sei zu teuer und zu zeitaufwendig, sagte er auch diese Woche wieder. Stattdessen befürwortete er den Plan seiner Innenministerin einer lokalen Überprüfung. Zudem sollten erst die 20 Empfehlungen des Berichts umgesetzt werden. Die Innenministerin Yvette Cooper sagte am Donnerstag, die Regierung wolle bis Ostern einen Zeitplan vorlegen.
Der parlamentarische außenpolitische Ausschuss unter Leitung der Labour-Abgeordneten Emily Thornberry verkündete derweil diese Woche, sich mit dem Thema „Desinformation und Diplomatie“ befassen zu wollen, Untertitel: „Wie bösartige Akteure versuchen, die Demokratie zu untergraben“. Derzeit werden schriftliche Beweise gesammelt und Einladungen an Zeugen für die Befragungen durch den Ausschuss verschickt, deren Teilnahme allerdings – es handelt sich ja lediglich um einen Ausschuss – freiwillig ist. Unter den geladenen Zeugen ist auch: Elon Musk.