Einer der profiliertesten Gegenspieler des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán ist der Budapester Bürgermeister Gergely Karácsony. Seit der Oppositionspolitiker 2019 das Amt übernahm, positioniert er seine Stadt als liberalen Antipol zur autoritären Politik von Orbán. Karácsony sprang dann auch sofort in die Bresche, als es darum ging, ob die Budapester Regenbogenparade stattfinden kann.
Diese ist seit Langem für Ende Juni angesetzt und sollte, wie jedes Jahr seit 1997, Tausende Menschen anziehen. Doch dann kam der 14. April, an dem das ungarische Parlament eine weitreichende Ausweitung des Kinderschutzgesetzes von 2021 beschloss. So erhielt der Kinderschutz Verfassungsrang, was es möglich macht, den Schutz von Kindern über andere Grundrechte zu stellen.
Das Kinderschutzgesetz traf schon bis dahin vor allem sexuelle Minderheiten. Es sieht vor, dass die Sexualaufklärung an Schulen nur eingeschränkt stattfindet und Bücher, Filme und andere Produkte mit LGBTQ-Inhalten Minderjährigen nicht zugänglich gemacht werden dürfen.
Der Bürgermeister will einen rechtlichen Kniff nutzen
Seit April schränkte es auch die Versammlungsfreiheit ein: Wer Zusammenkünfte organisiere oder daran teilnehme, die vor Minderjährigen „für die Abweichung von der Identität des Geburtsgeschlechts, für Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität werben oder diese darstellen“, mache sich strafbar. Die Behörden dürfen bei solchen Versammlungen Gesichtserkennungssoftware einsetzen, um Regelverstöße zu verfolgen.
Damit war klar, dass die Budapester Pride eine illegale Versammlung sein würde. Es sei denn, die alljährliche Regenbogenparade ist gar keine Demonstration im Sinne des Versammlungsrechts. Diesen rechtlichen Kniff versucht nun Bürgermeister Karácsony. Er will die Pride auf jeden Fall stattfinden lassen – und zwar als städtische Veranstaltung, ähnlich einem City-Marathon oder einem Straßenfestival. Solche Events fallen nicht unter das Versammlungsrecht.
Er wolle, sagte Karácsony ungarischen Medien, den Rechtsstaat verteidigen beziehungsweise das, was noch von ihm übrig ist. Experten beklagen seit Langem, dass die Rechte sexueller Minderheiten durch Verfassungsänderungen in Ungarn immer weiter beschnitten werden.
Ob die Pride am Samstag tatsächlich stattfindet, ist nach wie vor unklar. Die Polizei wertet auch das geplante „Freiheitsfest“, wie der Budapester Bürgermeister es nennt, als eine Demonstration, die nach dem Versammlungsrecht angemeldet werden muss. Eine solche würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht genehmigt oder aufgelöst.
Rücksicht auf Orbáns ärgsten Rivalen
Zur Parade wird auch eine große Delegation aus Brüssel erwartet. Mehr als 70 Europaabgeordnete haben die Reise nach Budapest geplant, ebenso die für Gleichstellungsfragen zuständige EU-Kommissarin Hadja Lahbib, eine Belgierin. „Brüsseler Eurokraten“ nennt Viktor Orbán solche Menschen und beschimpft sie als angeblich volksferne Elite, die sich in nationale Angelegenheit einmische. Beeindruckt es Orbán, wenn Brüsseler Politikvolk auf Budapests Straßen mitmarschiert? Oder freut er sich sogar still und leise darüber? In Brüssel gibt es Anhänger beider Theorien.
Von der Europäischen Volkspartei (EVP), der auch CDU und CSU angehören, wird nur die Europaabgeordnete Maria Walsh in Brüssel vertreten sein. Die Irin setzt sich seit jeher für die Rechte sexueller Minderheiten ein. Ansonsten gibt es in der Parlamentsfraktion offenbar Einvernehmen darüber, sich von der Veranstaltung fernzuhalten, auch aus Rücksicht auf den Orbán-Rivalen Péter Magyar, der sich mit seiner Partei Tisza der EVP angeschlossen hat.

Magyar, der in Meinungsumfragen vor Orbán liegt, will dem Ministerpräsidenten vor den nächsten Wahlen im Frühjahr 2026 die grassierende Korruption vorhalten. Er will Mängel im Bildungssystem anprangern und den schlechten Zustand der Krankenhäuser zum Thema machen. Europaabgeordnete, die auf Budapests Straßen die Regenbogenfahne schwenken, hält er offenbar für kontraproduktiv. Sie würden nur Orbáns Erzählung bedienen, Brüssel wolle Ungarn unterwerfen.
Die Grünen finden, man müsse Orbán entschieden entgegentreten
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ließ Berichte dementieren, sie habe ihrem Kollegium abgeraten, Flagge zu zeigen. Dennoch wird nur Hadja Lahbib in Budapest vertreten sein, und sie wird auch nicht an der Parade teilnehmen, sollte sie in aller Form verboten werden. In dem Fall würde sie lediglich Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft führen. Hinter der Zurückhaltung kann man den Wunsch vermuten, Viktor Orbán nicht zu provozieren. Schließlich braucht man diese Woche beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel seine Zustimmung zu Sanktionen gegen Russland.
Der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund aus Aachen hat fürs Wochenende eine Busreise von Köln nach Budapest organisiert, um Unterstützer zu mobilisieren. Als Experte für Korruptionsfragen beschäftigt er sich seit Jahren mit Orbán und ist überzeugt, die EU müsse ihm jetzt entschieden entgegentreten: „Sonst treibt er es immer doller.“ Die Kommissionspräsidentin, findet Freund, hätte eine „einstweilige Verfügung“ gegen das Pride-Verbot auf den Weg bringen sollen. Schließlich sei klar, dass ein Demonstrationsverbot nicht mit Kinderschutz zu rechtfertigen sei.
Generell schlägt Orbán aus der EU ein zunehmend rauer Ton entgegen. Noch immer sind mehr als 20 Milliarden Euro an Fördergeldern wegen Korruption und Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien gesperrt, und niemand ist mehr bereit, sie im Gegenzug für politische Kompromisse freizugeben. Zu offensichtlich verletzt Orbán den Wertekanon der Union. Vor dem EuGH droht ihm bald die nächste Niederlage im Verfahren um seine LGBTQ-Gesetzgebung im Namen des Kinderschutzes.
Mitte Mai verurteilten 20 EU-Regierungen in einem Brief das Verbot der Pride. Es war auch als Warnung gedacht: Wenn Orbán nicht einlenkt, könnte die EU das sogenannte Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn vorantreiben. Das würde im nächsten Schritt bedeuten, dass „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung von Grundrechten“ in Ungarn festgestellt wird. Am Ende könnte sogar der Entzug des Stimmrechts stehen.