ÖRR und Privatsender: Eine Plattform fürs Netz „Made in Germany“

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Eine europäische Medienplattform, die Google, Amazon oder Netflix Paroli bieten soll, das ist eine oft zu hörende Forderung. Schon Ende 2017 warb der damalige Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm (heute Vorsitzender des Kuratoriums und Mitgeschäftsführer der Fazit-Stiftung, die die Mehrheit der Anteile an der F.A.Z. hält), für eine „europäische digitale Infrastruktur“. An der Plattform sollten sich öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanbieter, Verlage, aber auch Institutionen aus Wissenschaft und Kultur beteiligen können. Doch außer der Ausschmückung dieser Vision ist bisher fast nichts geschehen, um dies Realität werden zu lassen. Das könnte sich jetzt ändern. Öffentlich-rechtliche und private Medienhäuser arbeiten erstmals gemeinsam an der Zukunft der digitalen Medien-Infrastruktur – einem „Datenraum Medien“.

Bund fördert Projekt mit 32 Millionen Euro

Seit Anfang 2023 wurden bei mehreren Treffen „Usecases“ entwickelt, bei denen eine branchenübergreifende Zusammenarbeit sinnvoll und realistisch erscheint. In verschiedenen Bereichen wurden deren technische Machbarkeit und der Mehrwert für Medien und die Gesellschaft untersucht. ARD, ZDF, RTL, ProSieben Sat.1 und die Deutsche Presse-Agentur (dpa) brachten ihr Fachwissen ein und stellten Trainingsdaten zur Verfügung. Die Koordination liegt bei „Mission KI – der Nationalen Initiative für Künstliche Intelligenz und Datenökonomie“ und ist ein Projekt der Acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. Das Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung (BMDS) förderte diese Initiative bisher mit 32 Millionen Euro.

„Unter der Federführung der Acatech erproben gegenwärtig fünf Medienhäuser eine gemeinsame, dezentrale Infrastruktur, um Daten rechtssicher und souverän austauschen zu können. Diese Infrastruktur basiert nicht auf geschlossenen Plattformangeboten, sondern auf offenen Standards und Protokollen. Diese offenen Standards werden in EU-Gremien unter Beteiligung der Acatech entwickelt. So wird die Datensouveränität der Teilnehmer durch Interoperabilität und passende Nutzungsbedingungen sichergestellt. Die Daten bleiben unter der Kontrolle der jeweiligen Medienhäuser, können aber sowohl von diesen als auch von anderen genutzt werden. Jedes Medienhaus entscheidet auch weiterhin über seine eigenen Geschäftsmodelle“, sagt Emanuel Marx von der Teamleitung Datenökonomie Mission KI bei Acatech zu dem Projekt in einem Gespräch mit der F.A.Z.

Wie Europa aufholen kann

„Während Techgiganten wie Google oder Amazon ihre Marktmacht durch die systematische Integration und Analyse gewaltiger Datenmengen ausbauen, fehlen in Europa vergleichbare zentrale Akteure. Stattdessen sind Daten de­zen­tral über zahlreiche Unternehmen und Institutionen verstreut“, begründet ein ARD-Sprecher die Teilnahme des Senderverbundes an dem Projekt. Durch eine abgestimmte Datennutzung könne Europa im internationalen Technologiewettbewerb aufholen. Diese Datenräume seien Teil der Digitalstrategie der Bundesregierung, der „Datenraum Medien“ stelle die branchenspezifische Umsetzung eines solchen Angebots dar.

Die fünf Anwendungsfälle, in denen bisher zusammengearbeitet wurde, sind die Entwicklung eines KI-Sprachmodells für die Medienbranche, ein Datenpool zur Authentifizierung von Nachrichten, die Nutzersegmentierung, die Personalisierung für Medien sowie einheitliche Metadaten zur Vernetzung.

Datenräume mit dezentralem Ansatz

Auch aus kartellrechtlichen Gründen basieren Datenräume auf einem dezentralen Ansatz, bei dem die Daten nicht an einem zentralen Ort zusammengeführt werden, sondern bei ihren ursprünglichen Quellen verbleiben und bei Bedarf direkt ausgetauscht werden. „Die viel zitierte ‚europäische Medienplattform‘ ist ohne eine derartige Infrastruktur, die einen reibungslosen Austausch von Daten ermöglicht, nicht denkbar. Jedes Medienhaus hat sein eigenes Redaktionssystem. Diese Systeme müssen kompatibel sein, einem einheitlichen Standard entsprechen und ‚miteinander reden‘ können. Diese Voraussetzungen schafft jetzt Acatech über eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im vorwettbewerblichen Bereich“, sagt Emanuel Marx.

In den vergangenen Monaten wurde beispielsweise ein Datenpool für die Verifizierung von Nachrichteninhalten, insbesondere für Bilder aufgebaut. Die Redaktionssysteme der Teilnehmerorganisationen können so Informationen rechtssicher abgleichen. Das reduziert Kosten und redundante Arbeitsprozesse. Zudem wurde die Anbindung des Verlagsdatenportals „Drive“ als Service-Dienstleister entwickelt. So können Daten oder Services aus externen Plattformen live integriert werden. Der Datenraum ist also mit bestehenden Lösungen kombinierbar und wertet diese um rechtssichere Nutzungsbedingungen auf.

„Der Datenraum ist sozusagen ein Straßennetz mit gemeinsamen Verkehrsregeln, das alle Partner miteinander verbindet. Mit welchen Autos diese Straße befahren wird und welche Partner angefahren werden, kann jeder Anbieter für jeden Datensatz selbst entscheiden. Er kann zukünftig auch bestimmen, unter welchen Bedingungen beispielsweise die Inhalte, etwa Nachrichten, kostenlos oder kostenpflichtig genutzt werden“, sagt Achim Meyer, wissenschaftlicher Referent der „Mission KI“ bei Acatech. In diesem Datenraum könnten sich also Inhalte unterschiedlicher Partner befinden, auf die über einen Weg zugegriffen werden kann. Mit dem Projekt werde ein neu­tra­ler Tisch geschaffen, auf dem sich Wettbewerber auf gemeinsame technologische Standards einigen könnten. Diese Standards müssen deutschen wie internationalen Bedingungen entsprechen, sagt Meyer.

Daten können Informationen über Zuschauerreichweiten, Nachrichten, aber auch Videos, Filme oder Podcasts, also Medieninhalte sein. Welche davon dann öffentlich zugänglich sind, müssen jeweils die Medienhäuser entscheiden. „An diese Infrastruktur können auch andere Medienhäuser, zum Beispiel Verlage, andocken. Dies haben wir schon zusammen mit der Teilnehmerorganisation dpa und dem Verlagsdatenportal ‚Drive‘ erprobt. Wir sehen technologisch keine Begrenzung, dass sich verschiedene Formate in diesem Datenraum befinden und auf unterschiedliche Art genutzt werden können“, ergänzt Emanuel Marx gegenüber der F.A.Z. Zudem wird es eine Art Suchmaschine geben, mit der alle Inhalte des Portals, einschließlich der validierten Nachrichten, gefunden werden können.

Mitte Oktober haben die Partner eine positive Bilanz des bisher Erreichten gezogen. Sie wollen das Projekt unbedingt weiterführen. Wenn die weitere Finanzierung schnell erfolgt, so der Teamleiter Marx von Acatech, sollte die dezentrale Infrastruktur für die Medienplattform Ende 2026 stehen. Dann könnten die Partner beginnen, den Datenraum live zu nutzen und mit Inhalten zu füllen.

Damit sind die Bundesregierung, aber auch die Sender aufgefordert, die weitere Finanzierung sicherzustellen. So könnte doch noch, zehn Jahre nach der Postulierung eines Gegenentwurfs zur Dominanz amerikanischer Plattformen, endlich die Realisierung beginnen. Ein solcher Datenraum würde die digitale Hoheitsgewalt und Wettbewerbsfähigkeit des Medienstandorts Deutschland sichern. Zudem können die Medienhäuser ihre Daten souverän nutzen und so ihre Digitalisierung im globalen Wettbewerb selbstbestimmt vorantreiben. Doch auch der Nutzer hat einen Vorteil, wenn eine solche Medienplattform existiert: Er kann auf überprüfte Inhalte, die aus verschiedenen Quellen stammen, sowie auf die große Vielfalt an deutschen Medieninhalten über einen Weg zugreifen.

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