Olaf Scholz als Kanzlerkandidat: Politikwissenschaftler zeigt auf, was die SPD so erreichen kann

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SPIEGEL: Herr Decker, Olaf Scholz hat nicht zurückgezogen, und die SPD hat ihn nicht ausgetauscht. Nun geht die Partei mit dem wohl unbeliebtesten Kanzlerkandidaten ihrer Geschichte ins Rennen. Gute Idee?

Decker: Die Diskussion um die Kanzlerkandidatur war unnötig und unwürdig. Die Partei hat die Kür von Olaf Scholz vergeigt. Sie hätte das Momentum vom 6. November, den Rauswurf von Christian Lindner, nutzen müssen, um den Sack zuzumachen und Scholz direkt zum Kandidaten auszurufen. Stattdessen hat die Parteiführung die Debatte laufen lassen und ohne Not den Kanzler beschädigt.

SPIEGEL: Scholz‘ Beliebtheitswerte sind im Keller, die SPD dümpelt in den Umfragen bei 15 Prozent. Was gab es da noch zu beschädigen?

Decker: Führende Sozialdemokraten haben die Schwächen des Kandidaten offen eingeräumt. Sie haben Zweifel geweckt, dass sich die Partei voll hinter Scholz versammeln kann. Und Geschlossenheit ist natürlich eine zentrale Voraussetzung für den Wahlerfolg.

SPIEGEL: Vielleicht ist Scholz mit seinen Schwächen einfach der falsche Kandidat?

Decker: Es gab keine wirkliche Alternative. Ein möglicher Kandidat Boris Pistorius hätte sich mit eigenen Positionen kaum profilieren können, weil Scholz ja weiterhin im Kanzleramt geblieben wäre. Dasselbe ist bei der letzten Wahl in der CDU auch schon Armin Laschet und vor ihm Annegret Kramp-Karrenbauer zum Verhängnis geworden. Das Risiko wäre zu groß gewesen.

SPIEGEL: Warum braucht die SPD überhaupt noch einen Kanzlerkandidaten?

Decker: Na ja, wir haben bei der letzten Bundestagswahl gesehen, dass man in einem Sechsparteiensystem schon mit 25 Prozent Kanzler werden kann. Mit dem BSW sind es nun sieben Parteien. Die SPD stand damals in den Umfragen zunächst auch nur bei 15 Prozent. Und Scholz war selbstverständlich Kanzlerkandidat.

SPIEGEL: Die Unionsparteien waren uneinig, die Grünen-Kanzlerkandidatin machte Fehler, Scholz blieb einfach übrig. Heute ist das anders, die Leute haben ihn drei Jahre regieren sehen, und viele haben offenbar keinen guten Eindruck davon gewonnen.

Decker: Die Ausgangsposition war 2021 sicherlich besser, weil die Partei auf die Kampagne gut vorbereitet war. Sie hatte Scholz schon ein Jahr vorher nominiert, damals auch einmütig. Es gab genug Zeit, alles zu planen. Und ja, die SPD hat damals von den Fehlern der anderen profitiert. Aber warum sollte das dieses Mal nicht wieder passieren?

»Scholz entfacht als Person keine Leidenschaft bei den eigenen Leuten.«

SPIEGEL: Das heißt, Sie setzen mehr auf vermeintliche Schwächen des Unionskandidaten Friedrich Merz als auf die Stärke von Scholz?

Decker: Drei Monate sind eine lange Strecke, da ist einiges möglich. Die Bundestagswahl ist noch nicht entschieden. Wir haben in diesem Jahr in Frankreich und den USA gesehen, wie dynamisch ein Wahlkampf sein kann, wie unberechenbar auch.

SPIEGEL: Die Union ist in Umfragen mehr als doppelt so stark wie die SPD.

Decker: CDU und CSU sind in der Favoritenrolle. Für die SPD kommt es jetzt auf die nächsten Wochen an. Im Dezember, aber spätestens im Januar müssen sich die Umfragen für sie verbessern. Wenn nicht, könnte schnell Resignation eintreten.

SPIEGEL: Was raten Sie Scholz?

Decker: Scholz entfacht als Person keine Leidenschaft bei den eigenen Leuten oder den Wählern. Für ihn geht es jetzt darum, die SPD-Themen in den Vordergrund zu rücken und die Wahl als Richtungswahl darzustellen. Er muss auf Mindestlohn, Rente, Industriearbeitsplätze setzen. Die Unterstützung der Ukraine wird ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Da sollte die SPD nicht den Fehler des Europawahlkampfes wiederholen und sich als Friedenspartei inszenieren.

SPIEGEL: Warum ging das schief?

Decker: Weil es nicht durch ernsthafte Initiativen unterlegt war. Die Botschaft hat der Partei keiner abgekauft.

SPIEGEL: Wo sehen Sie denn noch Wählerpotenzial für die SPD?

Decker: Das sozialdemokratische Potenzial liegt bei fast 50 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl sind Wähler in Scharen von der Union zur SPD abgewandert. Das Potenzial ist also vorhanden, es wird nur bei Weitem nicht ausgeschöpft. Kommt sie aus dem Umfragetief nicht bald heraus, muss die SPD fürchten, dass mögliche Wähler zu den Grünen gehen. Niemand ist gern bei den absehbaren Verlierern.

SPIEGEL: Bisher blieb die SPD jedenfalls weit hinter ihrem Potenzial zurück.

Decker: Die SPD hat nun mal viele Erwartungen enttäuscht, etwa beim Thema Wohnen. Scholz hat seine Versprechen nicht einhalten können. Erinnern Sie sich: 400.000 Wohnungen sollten pro Jahr entstehen und der Mieterschutz verbessert werden. Oder die Sache mit der Wirtschaft: Scholz versprach, wir würden im Zuge der ökologischen Transformation ein neues Wirtschaftswunder erleben. Ist nicht eingetreten. Oder in der Migrationspolitik: Da wollte er im großen Stil abschieben. Auch nicht geschehen. All das fällt jetzt auf ihn zurück.

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