Wer zündelt hier?
Ah, der erste Morgen der politischen Sommerpause. Stell Dir vor, Du bist Unionspolitiker, die Sonne blitzt durch die Vorhänge, Du blinzelst ins Licht, herrlich, einfach nochmal umdrehen – und dann fällt Dir alles wieder ein. Dieser Riesenmist.
Ein besonderer Morgengruß gilt hier Fraktionschef Jens Spahn, an Tag 1 nach seiner politischen Vollkatastrophe. Die Kontrolle über die eigene Fraktion verloren, die Verfassungsrichterwahl hauruck abgesagt, eine seriöse Kandidatin für Karlsruhe demontiert, das Versprechen an die SPD gebrochen und dem eigenen Kanzler die erste Bilanz verhagelt – und damit wäre das Problem Richterwahl nicht mal gelöst. Der begnadete Selbstverteidiger Spahn tänzelt am Abgrund.

Jens Spahn während einer Sitzungspause im Plenarsaal
Foto: Katharina Kausche / dpaWie die »Bild«-Kollegin Angelika Hellemann meldete, will die SPD ihre gescheiterte Kandidatin, Frauke Brosius-Gersdorf, nun in die Unionsfraktion schicken zur Fragestunde. Alle Achtung vor so viel Nervenstärke der Juraprofessorin, die wegen ihrer Positionen zu Abtreibung, Kopftüchern und Impfpflicht offenbar Morddrohungen bekommt. Ja, alles linskliberale Ansichten, über die aber der Prüfer einer Jura-Klausur notieren würde: »vertretbar«.
Wer dieser Tage auf den Berliner Sommerfesten Unionspolitiker traf, spürte ihre Angst vor rechten Hetzportalen wie »Nius«. Sie haben im Unionsmilieu eine beängstigende Reichweite, und gegen ihre Propaganda fruchtet kein Argument. Diese Woche waren sie nicht nur wirkmächtiger als seriöse Medien, sie haben de facto die Unionsfraktion regiert. Und klangen wie im Song von David Guetta:
Beating my drum like dum di-di-day
I like the dirty rhythm you play
Banging the drum like dum di-di-day
I know you want it in the worst way
Extra-Minuspunkte seien hier noch vergeben an den Krawallo-Plagiatsjäger Stefan Weber, der kurz vor der Richterwahl in seinem Blog vereinzelte »Quellenplagiate« und »Textparallelen« in der Dissertation der Kandidatin präsentierte (mehr dazu hier ). Man kann nicht »Feuer!« schreien in einem vollen Theater, wenn da nur ein Streichholz flackert. Noch dazu, wenn man wie Weber selbst zündelt. Prompt sind die Unionsleute in Panik aus dem Saal gestürzt.
Mehr Hintergründe hier: Kurz vor der Abstimmung zieht Spahn die Reißleine
Spritze gegen Waage
Vor zwei Jahren wurde in Deutschland die »Abnehmspritze« zugelassen. Meine Kolleginnen Julia Köppe und Alina Schadwinkel ziehen eine Bilanz der Medikamente gegen Adipositas mit offiziellen Namen wie Wegovy, die die Verdauungsprozesse und Insulinproduktion im Körper beeinflussen. Sie trafen Patientinnen wie Anja Thiedke, die erzählt, dass sie seit anderthalb Jahren keinen richtigen Hunger mehr verspürt. Von ursprünglich 120 Kilogramm Körpergewicht hat sie 30 verloren – »aber die Euphorie vom Anfang ist verpufft.« Denn seither bleibe ihre Waage einfach beim selben Wert stehen, und sie verspüre auch wieder die Sehnsucht nach Süßigkeiten.

Abnehmspritze mit dem Wirkstoff Semaglutid
Foto: Roberto Pfeil / dpaMeine Kolleginnen analysieren die Erfolge der Abnehmspritzen, die kleinen Nebenwirkungen von Übelkeit bis Haarausfall und die Suche nach möglichen größeren Risiken.
Für mich zeigt der Artikel mal wieder, wie glücklich sich jeder schätzen kann, der nicht von Adipositas betroffen ist. Wie hart auch der medizinische Kampf gegen die Pfunde ist, und dass Abnehmspritzen nur scheinbar der »easy way out« sind.
Die ganze Geschichte hier: Was über Vorteile und Risiken von Abnehmspritzen bekannt ist
Ein bisschen (Rechts-)Frieden
Fünfeinhalb Jahre Freiheitsstrafe – das Urteil gegen Marvin S. mag noch nicht rechtskräftig sein, aber für sein Opfer und deren Familie ist es vielleicht ein kleines Stück Rechtsfrieden. Die Mitglieder der 12. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin sind überzeugt, dass Marvin S. die Studentin Sarah R., die er schwer alkoholisiert an einer Bushaltestelle aufgegriffen hatte, in seiner Wohnung mit Drogen wehrlos machte, vergewaltigte und filmte, als sie schon bewusstlos war.

Frau auf Bett (Symbolbild)
Foto: [M] DER SPIEGEL; Foto: Vyacheslav Chistyakov / Westend61 / IMAGOSarah R. überlebte den Angriff nur knapp, bis heute leidet sie unter massiven Ängsten, Schlafproblemen und Konzentrationsschwierigkeiten. Vom Trauma der Tat abgesehen muss es furchtbar belastend für sie gewesen sein, dem Angreifer vor Gericht zu begegnen. Ich selbst war nur ein Mal als Zeugin in einem Strafprozess, nachdem ich einen Internet-Hater wegen Beleidigung angezeigt hatte. Schon die Begegnung mit diesem kleinlauten, biederen Wutbürger, von dem mir nie eine Gefahr für Leib oder Leben drohte, war unangenehm. Da möchte ich mir das Leid von Sarah R. in diesem Prozess nicht ausmalen.
»Das Tatbild ist verstörend«, sagte der Vorsitzende Richter im Fall von Marvin S., und das ist es wirklich. Die Details sind für einen Morgen-Newsletter zu harter Tobak. Aber ich wünsche dem Text von Wiebke Ramm über diesen Beinahe-Femizid, über die Verachtung und Gewalt eines männlichen Täters gegenüber einer hilflosen Frau möglichst viele Leserinnen und Leser.
Die ganze Geschichte hier: Vergewaltigt, gefilmt, fast gestorben – das Urteil gegen Marvin S.
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Gewinner des Tages…
…ist Timothy Garton Ash, ein Mann der 1000 Talente: Historiker, Autor, Oxford-Professor, engagierter Europäer, polyglotter Gentleman. Ash feiert heute seinen 70. Geburtstag. Er ist ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft, Journalismus und Politik: 1980 diskutierte er auf der Danziger Werft mit dem Solidarność-Aktivisten und späteren polnischen Präsidenten Lech Wałęsa, später beriet er die britische Regierungschefin Margaret Thatcher zum Umgang mit dem wiedervereinigten Deutschland, und oft diente er seinem Schriftsteller-Freund Ian McEwan als Sparringspartner für Ideen.
In seinen eigenen Werken befasste Ash sich mit seiner Stasi-Akte, mit politischen Strategien im Umgang mit der Globalisierung oder mit der Meinungsfreiheit in Zeiten von Social Media – zu jeder politischen Streitfrage kann er intelligente Gedanken beisteuern.

Timothy Garton Ash
Foto: Henning Kaiser / picture alliance / dpaMan wüsste gerne, was Ash, der hervorragend Deutsch spricht (»Thomas Mann ist schuld an meinem Interesse an Deutschland«) zum Debakel der Verfassungsrichterwahl sagt. Vielleicht ist es Zeit für ein neues SPIEGEL-Gespräch (über seine Sicht auf das erste Viertel des 21. Jahrhunderts haben wir Anfang des Jahres mit ihm hier gesprochen ).
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