Das Buch ist da, das Ringen um die Deutung beginnt
Die Journalistin Anne Will führte gestern Abend im Deutschen Theater in Berlin mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Gespräch über deren Buch »Freiheit« und sagte: Nun, da das Buch erschienen sei, setze die »Interpretation der Interpretation« ein.
Und das stimmt.
Leser, Journalistinnen, Politiker deuten jetzt aus, wie Merkel im Buch auf sich selbst und ihre eigenen Entscheidungen blickt. Und häufig heißt es, Merkel mangele es an Selbstkritik.
Journalistin Will, Buchautorin Merkel: Ringen um Russlandpolitik
Foto: Michael Kappeler / EPABei dem Gespräch mit Will gestern im Theater war Merkel anzusehen, dass dieser Vorwurf sie beschäftigt, wenn nicht sogar anfasst.
Sie wies darauf hin, dass sie doch einräume, in der Klimapolitik oder bei der Digitalisierung zu wenig vorangekommen zu sein.
Dann aber sprach Will sie auf ihre Russlandpolitik an, ob sie hier nichts bereue. Das Gespräch wurde für eine längere Phase zu einem regelrechten Ringen. Anne Will setzte nach, Merkel verteidigte sich, warb immer wieder darum, doch bitte die Perspektive der Zeit, in der sie politisch gehandelt habe, einzunehmen.
Irgendwann stellte die ehemalige Bundeskanzlerin der Moderatorin ihrerseits eine Frage, anscheinend ratlos – oder trotzig? –, ob es denn ein »Gütesiegel« sei, sich selbst zu kritisieren.
Das war einer der interessantesten Momente des ohnehin hochspannenden Gesprächs. Will sagte kurz »nein«, die Frage schien aber weiter im Raum zu schweben und blieb letztlich unbeantwortet.
Von der Zuschauerbank aus ließe sich dazu sagen: Selbstkritik, die als Gütesiegel dienen würde, also dazu, die Person, die sie übt, zu schmücken, wäre tatsächlich nichts wert. Und nein, die Vergangenheit lässt sich durch sie natürlich nicht ändern.
In ihr aber kann durchaus eine Chance für die Gegenwart liegen, für die Zukunft und auch für andere Leute, die jetzt politisch handeln müssen: Wer Selbstkritik übt, sucht beispielhaft das Geschehene nach Möglichkeiten ab, danach also, ob es nicht anders hätte verlaufen können. Aus einer solchen Perspektive stellen sich Zeitläufe als variabel dar, es gibt dann keine Zwangsläufigkeit mehr, sondern verschiedene Optionen. Wer auf diese Weise auf Vergangenes blickt, schaut möglicherweise offener in die Zukunft und deren Möglichkeiten als eine ehemalige Kanzlerin, die während ihrer Amtszeit eine Vorliebe für ein bestimmtes Wort gehabt hat: Alternativlosigkeit.
Mehr Hintergründe zu lesen Sie hier: »Freiheit« verrät praktisch nichts. Und damit womöglich alles
Eine Frau an der Spitze Namibias?
1990 wurde Namibia ein von Südafrika unabhängiger Staat. Seither regiert dort die Swapo-Partei, die aus der Befreiungsbewegung des Landes hervorging. Heute aber werden in Namibia ein neues Parlament und das Staatsoberhaupt gewählt, und es ist alles andere als gesichert, dass die Swapo diesmal wieder erfolgreich sein wird. Als Präsidentschaftskandidatin der Partei hat sich die 72-jährige Vizepräsidentin Netumbo Nandi-Ndaitwah aufstellen lassen, im Falle eines Sieges wäre sie die erste Frau an der Spitze des Landes.
Swapo-Präsidentschaftskandidatin Nandi-Ndaitwah: Ungewisse Chancen
Foto: Noah Tjijenda / REUTERSSollte sie bei der Wahl aber tatsächlich unterliegen und die Swapo ihre Parlamentsmehrheit verlieren, wäre die Partei nach dem südafrikanischen African National Congress (ANC) und der botsuanischen BDP schon die dritte Regierungspartei im südlichen Afrika, die nach langer Zeit die Macht verliert.
Erste Ergebnisse werden für Samstag erwartet.
Mehr Hintergründe dazu finden Sie hier: Optimismus am Kap der Guten Hoffnung
Putin besucht Kasachstan
Inzwischen gilt es als Nachricht, wenn der russische Präsident Wladimir Putin verreist. Anders als andere Staatschefs hat er nicht so viele Möglichkeiten, seit der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hat. Nach Kasachstan aber kann er reisen, ohne eine Verhaftung zu befürchten, und das tut er heute auch. Er wird mit Präsident Qassym-Schomart Tokajew über den Ausbau der Beziehungen Russlands zu Kasachstan sprechen.
Russischer Präsident Putin: Muss nicht reisen
Foto: Alexey Druzhinin/ Sputnik/ AFPVon Augenhöhe kann in dieser Beziehung keine Rede sein, Putin dominiert das Verhältnis.
Putin könnte auf die Mühen des Reisens ohnehin verzichten. Einfluss hat er auch in Ländern, mit deren Staatsoberhäuptern er überhaupt nicht spricht. Er versteht ja etwas von Propaganda und Desinformation.
Mehr zu diesem Thema lesen Sie hier: Wie Putin sich vor Entscheidungen drückt
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Kanzler und Kanzlerkandidat Olaf Scholz: Verzagte SPD-Mitglieder
Foto: TOBIAS SCHWARZ / AFP… ist jetzt schon die SPD, obwohl noch gar nicht gewählt wird. Laut einer heute veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für das Redaktionsnetzwerk Deutschland erwarten nur 14 Prozent der SPD-Mitglieder bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar einen Sieg. Im Juli seien noch 31 Prozent der Mitglieder der Ansicht gewesen, dass die Partei bei der nächsten Bundestagswahl wieder stärkste Kraft werden könnte.
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