Männlichkeit: Warum Männer Probleme haben, einander zu umarmen

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 Warum haben Männer so Probleme, einander zu umarmen?

Komm an mein Herz: Warum haben Männer so Probleme, einander zu umarmen?

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Anke Doerschlen / plainpicture

Es ist diese eine Sekunde, in der ich mich entscheiden muss, vielleicht sind es auch nur Zehntelsekunden. Ein Wimpernschlag, der darüber entscheidet, ob ich mich fühle wie ein sozial inkompatibler Trottel oder nicht.

Vor drei Wochen war es wieder so weit. Ich, 28, sah auf einem Fußballturnier eine Bekannte, 23, auf mich zukommen. Ich umarmte sie zur Begrüßung, genau wie am Tag zuvor. Während ich sie drückte, sah ich das Problem auf mich zukommen: in Gestalt ihres Fast-Zwei-Meter-Zwillingsbruders, den ich nicht so gut kenne und mit dem ich weniger zu tun habe.

In Sekundenbruchteilen musste eine Entscheidung her: Auch umarmen?

So gut kennst du den auch nicht.
Seine Schwester hast du aber umarmt.
Fühlt er sich abgewertet, wenn ich ihn nicht umarme?
Warum aber sollte ich ihn anders behandeln, nur weil er ein Mann ist?

Ich entschied mich für die Umarmung. Und streckte meine Unterarme aus, während ich auf ihn zulief, als Vorbereitung für ihn. Im selben Moment hob er seinen rechten Unterarm, die Handfläche offen, bereit für den Alman-Sportler-Handshake. Zwei Männer, zwei Gedanken.

Ich lächelte und verharrte in meiner Körperhaltung, die signalisierte, mich doch bitte nicht so stehenzulassen. Mein Gegenüber lächelte nicht. Er zog die Augenbrauen hoch und ergab sich seinem Schicksal. Wir umarmten uns, mehr Zwang als Wille. Als er noch »Du gehst aber ran!« murmelte, war mein Begrüßungs-Desaster perfekt. Leider war das kein Einzelfall aus meinem Leben. Immer häufiger weiß ich nicht, wie ich gute, männliche Bekannte im privaten Umfeld begrüßen soll.

Wenn ich eine Person umarme, was mache ich mit der nächsten?

Seit ein paar Jahren umarme ich meine engen Freunde. In der Schule kam es gelegentlich vor, dass ich Freundinnen mit einer Umarmung begrüßte; im Studium wurde es dann zunehmend normaler. Aber: Es waren ausschließlich Frauen. Irgendwann habe ich mich gefragt, wieso ich die Geschlechter unterschiedlich behandele. So richtig wusste ich es nicht. Also umarmte ich auch meine Kumpels. Worüber ich mir keine Gedanken gemacht hatte: den Rattenschwanz. Wenn ich die eine Person umarme, was mache ich dann mit der nächsten?

Fest steht: Auf keinen Fall möchte ich Frauen zärtlich umarmen und Männer mit möglichst festem Handshake begrüßen und Reproduzent von Geschlechterstereotypen werden.

Der Weg zur Umarmung unter (gleichaltrigen) Männern war ein langer. Bereits mit 8 Jahren in der E-Jugend habe ich über Umarmungen nachgedacht. Genauer gesagt: über Torjubel. Ich wollte das Tor so zelebrieren wie die Profifußballer, die sich – damals wie heute – gegenseitig in die Arme fallen. Aber ich hatte Hemmungen. Glaubte, dass die anderen Jungs das nicht wollten. Und verzichtete.

Als ich, ähnliches Alter, mal ein Fallrückzieher-Tor schoss, machte ich etwas für mich Verrücktes: Ich lief zu meinem besten Freund und Teamkollegen, wir machten erst ein doppelhändiges High Five und stießen anschließend unsere Brustkörbe aneinander. Das war für mein Befinden schon crazy intim.

Mit meinem besten Grundschul-Freund liebte ich es, unseren durchchoreografierten Handshake durchzuführen. Beziehungsweise aufzuführen: ein Brunfttanz unter Burschen. Keine Ahnung, wo er das aufgeschnappt hatte, aber ich liebte es und fühlte mich geradezu erhaben.

Auch auf der weiterführenden Schule waren Handshakes an der Tagesordnung. Wenn ich nach der Pause durch die Flure ging, klatschte ich mit meinen Teamkollegen vom Fußball ab, sobald ich ihnen über den Weg lief. Als hätte ich mein Revier markiert. Es gab gar einen Handshake, nach dem ich geradezu süchtig war. Die Hand meines ehemaligen Mitbewohners aus Siegen, ein 100-Kilo-Muskelmann, war das perfekte Pendant zu meiner. Den Sound des Handschlags, ein hohl- und wohlklingendes Pok, habe ich fast eine Dekade später immer noch im Ohr. Dabei war ich als sogenannter Lauch zunächst eingeschüchtert von seiner Physis. Unser Handshake war für mich vor allem eines: die Inkarnation von Dominanz und Stärke. Ein (vermeintlicher) Männlichkeits-Beweis.

Je länger ich über meine Unsicherheit beim Umarmen nachdenke, umso klarer wird mir, dass Männlichkeit das Thema ist.

Ich hole mir Expertise von Sarah Martiny, Professorin für Social and Community Psychology an der Arctic University of Norway. Die deutsche Wissenschaftlerin forscht unter anderem zum Thema Maskulinität und Veränderungen von Geschlechternormen.

Erst einmal weist mich Martiny auf etwas Banales hin: dass es inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher Begrüßungen gibt. »Weil es keine feste Norm mehr gibt, haben wir eine Spannweite an möglichen Verhaltensweisen, sodass wir uns in der Situation spontan entscheiden müssen: Umarmen, Hand reichen oder Hallo sagen?« Gedanklich führe ich ihre Liste noch mit diversen Handshakes (mit/ohne parallelen Halb-Umarmungen) fort. In der Generation vor meiner, sagt Martiny, sei es in Deutschland normal gewesen, sich klassisch mit Händedruck zu begrüßen.

Ich muss an meinen Onkel denken. Wir haben uns noch nie umarmt. Jedes Mal, wenn er mir seine rechte Hand demonstrativ hinstreckt, erweckt das in mir den Eindruck, dass er gar nicht umarmen will. Es ist nicht so, als wäre es mein Wunsch, ihn zu umarmen. Aber fast jedes Mal, wenn ich ihn treffe, umarme ich in seiner Anwesenheit die anderen: Tante, Oma, Cousinen, Opa, Cousin. Und meinen anderen Onkel.

»Tja, wahrscheinlich, um die Distanz zu halten.«

Onkel, kein Umarmer

Wenn ich erst den einen Onkel umarme und danach den anderen nicht, fühlt sich das für mich falsch an.

Für ihn nicht. Das denke ich mir nicht aus, sondern ich habe ihn gefragt. »Ich habe da nie Vergleiche gezogen.« Er habe sich wirklich nie Gedanken darüber gemacht, wie er mich begrüßt. Ich will von ihm wissen, wie die Kultur im Elternhaus aussah. Er sagt: »Selbst, wenn meine Eltern Besuch kriegten, sind die sich nie in die Arme gefallen. In der Zeit war Hand-Geben angesagt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die einen großen Zinnober gemacht haben.«

Spätestens am Wort »Zinnober« offenbart sich: Er steht Begrüßungs-Umarmungen ziemlich skeptisch gegenüber. Für diese »Ranschmeißerei« sei er einfach nicht der Typ, sagt er. Andere Frauen nehme er schon mal in den Arm. Voraussetzung sei aber, dass er sie lange kenne. Andere Männer umarme er nicht. »Vielleicht mal zum Geburtstag. Oder so Halb-Umarmungen. Aber eher distanziertere Geschichten«. »Warum nicht?«, frage ich. Er überlegt kurz. »Tja, wahrscheinlich, um die Distanz zu halten.«

Dass ich Männer anders umarme als Frauen, habe ich auch schon feststellen müssen. Nach etlichen Umarmungen hatte mich mein Freund Dennis darauf hingewiesen, dass ich ihm bei der Umarmung immer auf den Rücken klopfe. Mir war es nicht mal aufgefallen.

Warum zur Hölle mache ich das?

Die Frage richte ich an Prof. Martiny. Sie erklärt, dass viele Männer eines partout nicht wollen, wenn sie anderen Männern begegnen: als feminin wahrgenommen zu werden. Die Befürchtung, deswegen abgewertet zu werden, sei gegenüber anderen Männern viel stärker als gegenüber Frauen. Bei zu viel Körperkontakt schwinge auch oft die Angst mit, als schwul wahrgenommen zu werden.

Der Rückenklopfer ist also so etwas wie das Real-Life-Äquivalent zu #nohomo in Social-Media-Kommentaren, denke ich. Eigentlich ein bisschen bigott, wenn ich Männer und Frauen gleich behandeln möchte, gleichzeitig aber mit Gesten krampfhaft auszudrücken scheine: Ich bin weder weiblich noch schwul!

Frauenrollen haben sich weiterentwickelt. Männerrollen kaum

Martiny erklärt mir, dass sich die Geschlechterrollen und -normen von Männern im Vergleich zu Frauen in den vergangenen drei bis fünf Jahrzehnten kaum verändert haben. Früher sollten Frauen und Mädchen, so das stereotype Ideal, fürsorglich, hübsch, warm und freundlich sein. Nur haben sich ihre Rollen und Zuschreibungen in diesem Zeitraum erweitert. Es sei mittlerweile sozial akzeptiert, dass Frauen ebenfalls intelligent, lustig oder stark sind und ihre Kompetenzen in hochqualifizierten Jobs einsetzen.

Die Rolle der Männer und Jungs habe sich jedoch kaum verändert. Sie sollten die Provider-Rolle erfüllen: kompetent, dominant, intelligent und (entscheidungs-)stark. Und dabei als Abgrenzung nicht den vermeintlich weiblichen Eigenschaften entsprechen. »Das führt dazu, dass Mädchen und Frauen ein viel breiteres Repertoire haben, wie sie sich verhalten dürfen, ohne dass sie sozial sanktioniert werden.« Es seien vor allem die Peers, also die anderen Jungs, die überwachen, ob Normen eingehalten werden.

»Sie haben das offenbar stark verinnerlicht«, sagt Martiny. Ich nicke. Und erkläre ihr, dass ich als Kind und Jugendlicher – bis zu meinem Wachstumsschub mit 18 – immer kleiner, dünner und schwächer als die anderen Jungs war. Auch heute ist mein Körper eher »grazil«. Jungs seien umso verletzlicher für das Absprechen ihrer Maskulinität, wenn man nicht dem Idealtypus des großen, starken Jungen entspricht, sagt Martiny.

Trotzdem bleibt die Frage: Weshalb hat sich beim Rollenverständnis von Männern und Jungs seit Jahrzehnten so wenig getan?

Weil sie – aus rein ökonomischer Perspektive – funktioniert haben, sagt Martiny. Deshalb habe sich etwa die Psychologie stark auf Frauen und Mädchen fokussiert. Raus aus der Rolle der Hausfrau, rein in den Arbeitsmarkt, besonders in die hochqualifizierten Jobs. Laut Martiny habe das insgesamt, trotz immensem Handlungsbedarf und bereinigtem Gender Pay Gap von sechs Prozent, gut funktioniert. Allerdings sei dabei versäumt worden, auf die Männer zu achten. Vor allem angestoßen durch den Fachkräftemangel bei Erzieherinnen, Pflegern oder Lehrerinnen habe man sich innerhalb der Psychologie die Frage gestellt, warum Männer in den Berufen unterrepräsentiert sind. Dabei sei zum Vorschein gekommen, dass es Männern an »communial skills« mangele: etwa Fürsorglichkeit, Freundlichkeit oder Empathie. Diese seien erst seit rund 20 Jahren ein großes Thema in der Psychologie.«

Ich hätte nicht geglaubt, dass ich das in diesem Text schreiben würde, aber: Wir Männer wurden offenbar vergessen. Es fehlte an Vorbildern, wie der moderne Mann zu sein hat.

Was mir selbst noch fehlt, ist mein eigenes Vorbild – zumindest in Bezug auf Umarmungen. Eine Anleitung, wie ich gute Bekannte begrüße.

Martiny hatte mir noch einen Gedanken mit auf den Weg gegeben: »Vielleicht umarmen Sie auch mehr Frauen, als Sie eigentlich wollen.« Ich spiele das »Du gehst aber ran!«-Szenario noch einmal durch: Wenn ich sie auf dem Fußballturnier nicht umarmt hätte, wäre mir nicht einmal der Gedanke gekommen, ihren Zwillingsbruder auch zu umarmen. Ich wäre nicht in die Begrüßungs-Bredouille geraten und wäre kein Gedankenkarussell gefahren.

»Wenn Sie 20 Jahre älter sind«, sagt Martiny noch, »dann würde ich Ihnen auch nicht empfehlen, alle jüngeren Frauen zu umarmen, die Sie nicht gut kennen.« Martiny schmunzelt. »Das Altwerden wird mich also retten«, sage ich.

Ich stelle mir vor, dass ich statt der Umarmung meiner 23-jährigen Bekannten die Hand gegeben hätte. In meinen Gedanken wirke ich, als hätte ich einen riesigen Stock im Arsch. Aber eigentlich sollte ich mich damit als Ostwestfale durchaus anfreunden können.

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