Leben mit Downsyndrom: Wovon hängt es ab, ob Inklusion funktioniert?

vor 17 Stunden 1

Nun bin ich also das, was ich nie werden wollte: eine Vorstadt-Mama in Teilzeit. Eine Lorbeerhecke haben wir natürlich auch. Da hilft es wenig, auf den Vermieter zu verweisen. Wir wollten hierhin.

 Schafft Freiheitsgefühle (Symbolbild)

Rennen ohne Autos: Schafft Freiheitsgefühle (Symbolbild)

Foto:

eclipse_images / Getty Images

Stadt oder Land? – eine typische Frage in der Mittelschichtsblase junger Eltern, die auch mich einholte. Mein Leben lang habe ich in Großstädten gewohnt, in Deutschland und im Ausland. Auch unsere Tochter mit Downsyndrom, ein Frühchen von 745 Gramm  mit Herzfehler und anderen gesundheitlichen Baustellen, habe ich in einem Großstadtkrankenhaus mit vielen Spezialisten zur Welt gebracht – zum Glück.

Ich weiß noch, wie ich mit meinem Mann über die inklusive Krabbelstube sprach, in die wir damals unser Kind schicken wollten. Mein Mann, der als kleiner Junge an der Isar gespielt hatte, mit Kieselsteinen und selbst gebauten Staudämmen, musste schlucken, als er die karge Außenfläche der Kita im Stadtgebiet sah, durchsetzt mit Lüftungsschachtabdeckungen der Tiefgarage. Ich sagte, die Lüftungsschächte seien mir und vermutlich auch unserer Tochter egal. Um die Menschen gehe es doch, die in der Krabbelstube als Erzieherinnen und Erzieher arbeiteten. Tatsächlich hatte unser Kind in jener Kita eine wunderbare Zeit, mit Gitarrenspiel und Singen im Innenraum.

Doch irgendwann in der Coronazeit war es so weit: Wir zogen »raus«. Und seitdem erzähle ich fröhlich vom Ziegengehege neben unserem Freibad, freue mich, dass alle, wirklich alle Mitarbeiterinnen im kleinen Supermarkt unsere Tochter mit Namen begrüßen. Dass die Menschen beim Bäcker mit einem Lächeln im Gesicht warten, bis die kleine Kundin ihren Einkauf erledigt hat. Dass wir hier ihren Orientierungssinn gut trainieren können, weil alles so übersichtlich ist. Und dass wir weitgehend risikolos ausprobieren können, wie viel Autonomie, die auch unsere Tochter mit ihrer geistigen Behinderung sich wünscht, möglich ist. Übrigens, auch ich genieße meine halbstündige Spazierrunde zwischen Wiesen und Wäldern. Ha! – und genau hier fängt die andere Geschichte an:

Denn wann schaffe ich es schon, mich diese 30 Minuten loszueisen zwischen Job und Familie, wenn ich beispielsweise für die wöchentliche Nachmittagsförderung unserer Tochter 50 Kilometer fahren muss, einfache Strecke? Auf die Förderung verzichten? Tja, wenn ich möchte, dass unsere Tochter lesen und schreiben lernt – was ja einem selbstbestimmten Leben durchaus zuträglich ist – fällt das schwer.

Denn das nächste Problem ist die Auswahl an Schulen, die man »auf dem Land« so hat. Die Frage nach der richtigen Schulform treibt die Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen um, man könnte auch sagen: bringt sie oft um den Schlaf. Aus Angst vor Ausgrenzung und zur Stärkung des Selbstwertgefühls lieber gleich an die Förderschule, auch wenn man dann die getrennten Welten zementiert? Oder doch voller Überzeugung an die Regelschule, weil man Inklusion für richtig hält, weil das eigene Kind dort Vorbilder hat, an denen und mit denen es lernt?

Natürlich gibt es längst Ideen und Projekte, wie man beides verbinden kann, doch – das ist meine Erfahrung – die Experimentierfreude und der Wille, verkrustete Strukturen zu verändern, ist in Städten größer. Das Angebot an Schulen auch.

Kurz und gut: So oft sind wir gar nicht bei uns zu Hause im Grünen, sondern auf der Straße. Fahren zur inklusiven Tanzgruppe hierhin, zum Psychomotorikkurs dorthin und zur Ergotherapie wieder in eine andere Richtung. Ach ja, die Wartezeit für einen Logopädieplatz liegt bei uns in der Gegend ungefähr bei einem Jahr. Bei Ihnen auch?

Welche Vorteile, welche Nachteile sehen Sie, wenn man als Familie in der Stadt wohnt oder »auf dem Land«? Schreiben Sie mir gern Ihre Erfahrungen an: familiennewsletter@spiegel.de .

Meine Lesetipps

Ist es nicht verrückt, dass der Grad von gelungener Inklusion, gerade im Bildungsbereich, so abhängig ist vom Wohnort? (Und wenn Sie mich fragen, was ich mit »gelungen« meine: Zum Beispiel, dass Inklusion gewollt wird und nicht erzwungen werden muss).

Zugegeben, noch wichtiger als der Wohnort sind vermutlich einzelne Menschen, die aus Überzeugung Dinge möglich machen. In jedem Fall möchte ich Ihnen dieses Interview  mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen empfehlen, das ich in unserem Archiv gefunden habe. Er stellt ebenfalls fest: »Es ist ein riesiger Unterschied, ob eine Familie mit einem beeinträchtigten Kind in Berlin, Schleswig-Holstein oder Bremen wohnt oder in Bayern, Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz. Das darf doch nicht sein.«

 Selbstbestimmung im Kleinen

Das eigene Geld verwalten: Selbstbestimmung im Kleinen

Foto:

Westend61 / Getty Images

Wenn man beim Wohnen ist, ist man gedanklich auch schnell beim Geld. Meine Kollegin Antonia Bauer hat zusammengetragen, was Eltern und Kinder über Taschengeld wissen müssen.  Und welche Fragen bei diesem Thema wichtig sind, zum Beispiel: Wer bestimmt über das Taschengeld? Gibt es langfristige Sparziele? Expertinnen und Experten raten übrigens dazu, dass Kinder ihr Taschengeld eigenständig verwalten.

Der Autor Daniel Haas schreibt regelmäßig über das Gefühl von Einsamkeit. In diesem berührenden Stück  hat er über seine eigene Kindheit nachgedacht: »Ich fühlte mich eben komisch, anders als andere, wobei ich nicht hätte sagen können, worin dieses Anderssein genau bestand.« Und weiter: »Die einsamen Kinder schämen sich. Und die Eltern schämen sich, weil sie nicht wissen, wie sie ihren Kindern helfen sollen.«

 Kein Schlaf, keine Konzentration, kein Schlüssel in der Tasche

Teufelskreis: Kein Schlaf, keine Konzentration, kein Schlüssel in der Tasche

[M] Linna Grage / DER SPIEGEL; Fotos: Mia Takahara / plainpicture; Yevgen Romanenko / Getty Images

»Moment, was wollte ich hier eigentlich?« Wenn Ihnen diese Frage bekannt vorkommt, vergessen Sie nicht, diesen Artikel zu lesen!  Und merken Sie sich: »Unser Gehirn kann sich immer nur auf eine Sache konzentrieren.« Sagt ein Neurologe. Und gibt Tipps, wie man seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen kann.

Und dann möchte ich Sie noch auf die Geschichte von Justus und Lilly  hinweisen, zwei Kinder, die mit einer transplantierten Leber leben. Es ist nicht nur die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, sondern auch darüber, welches Glück in der Normalität liegt. Weil Normalität so kostbar sein kann.

 K. Wagner mit Justus

Leben mit Organspende: K. Wagner mit Justus

Foto: Privat

Das jüngste Gericht

Würde ich diesmal gern ergänzen um das »jüngste Gedicht«. Und damit bin ich bei meinem Buchtipp diese Woche. Viele Stunden, Tage, Wochen habe auch ich mit unserer Tochter in Krankenhäusern verbracht, und eines der ersten Kinderbücher, das ich mir zulegte, war dieses: »Ich liebe dich wie Apfelmus«, ein Lyrikband, herausgegeben von Amelie Fried.

Was für eine Wohltat war es, mal nicht auf Zahlen und Kurven auf Monitoren zu starren, sondern Reime vorzulesen. Von Rilke über Ringelnatz bis zu Paul Maar. Noch heute sprechen meine Tochter und ich diese Zeilen nach, wenn uns langweilig ist, zum Beispiel bei einem Fußmarsch. Oder wenn ich unsere Tochter ablenken möchte, weil der Kinderarzt mit der Spritze naht. »In der alten Felsenhöhle mixt die Hexe mit Gegröle ihre schlimmen Hexen-Öle: Rabenschnäbel, Räubersäbel...«

Nicht um Kräutersud und Drachenblut, sondern um Schnittlauchschneiden  und Spargelschälen  geht es dafür in unserem neuen EXTRA Genuss. Schauen Sie mal rein!

Mein Moment

Als ich in meinem vorherigen Familiennewsletter die erste kleine Liebesgeschichte unserer Tochter erzählte, erreichte mich die Zuschrift eines Vaters, der einen Sohn mit Downsyndrom hat. Es waren sehr nachdenkliche Zeilen:

»Es gibt auch eine verborgene, verschwiegene Seite, die junge Frauen mit Downsyndrom betrifft. Im Alter zwischen 18 und 24 Jahren ziehen die meisten in Wohngruppen und finden dort auch Freunde. Die Eltern der jungen Frauen sind meist sehr froh, nun endlich auch über das eigene Leben bestimmen zu können. Aber es dauert nicht lange, bis sie realisieren, dass diese Zeit der Befreiung nur kurz währen könnte. Was geschieht, wenn die eigene behinderte Tochter schwanger wird? Ich kenne keine Eltern, denen das nicht schlaflose Nächte bereitet … Viele Eltern, die ich kenne, sind ausgebrannt, verglühen in einem Spannungsfeld zwischen Liebe, Überforderung und moralischen Konflikten, die unlösbar sind.«

Ich möchte den Ernst, der in diesen Gedanken steckt, nicht wegwischen. Ich finde es wichtig, dass wir in unserem Familiennewsletter auch über das schreiben, was schwierig ist. Was wehtut. Ich wünsche uns allen trotzdem die Zuversicht, dass wir es irgendwie hinkriegen, das Leben.

Herzlich,
Ihre
Sandra Schulz

Gesamten Artikel lesen