Russland greift die Ukraine vermehrt mit Drohnen an, die in großer Höhe fliegen. Die Abwehr wird immer schwieriger, Selenskyj setzt auf Abfangdrohnen. Der Wochenrückblick
11. Juli 2025, 18:37 Uhr
Seit mehr als dreieinhalb Jahren setzt Russland Drohnen gezielt als Waffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ein. Insgesamt wurden allein 2025 nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte bereits über 24.000 Drohnen verschiedener Typen eingesetzt. In den vergangenen Wochen hat sich die Taktik der russischen Angriffe weiterentwickelt – insbesondere durch den Einsatz höher fliegender Drohnen, die schwerer abzufangen sind.
"Sie haben begonnen, die Flughöhe auf zwei, zweieinhalb Kilometer und mehr zu erhöhen", sagte der Militäranalyst der ukrainischen Gruppe Informationswiderstand, Oleksandr Kowalenko, der ZEIT. "Manche Drohnen erreichen mittlerweile fast fünf Kilometer Höhe, wenn sie Kyjiw angreifen. Und unsere mobilen Abwehrgruppen, die früher sehr effizient waren, können in solchen Höhen kaum noch eingreifen."
Mobile Abwehrgruppen bestehen meist aus einem Pickup mit einem Maschinengewehr vom Typ DSchK oder Browning M2, begleitet von Soldaten mit Handfeuerwaffen. Effektiv ist eine solche Abwehr bei Drohnen-Flughöhen bis etwa 1.000 Meter. Kowalenko kritisierte, die Ukraine habe zu lange auf dieses einfache, kostengünstige Konzept vertraut: "Wir haben unsere Chance verschlafen. Als wir begannen, mobile Abwehrteams einzusetzen, waren wir zu zufrieden mit deren Effizienz und den geringen Kosten." Die Ukraine habe an diesem Ansatz seither festgehalten, "und die Russen, die sind nicht stehen geblieben, die haben sich weiterentwickelt".
Um den russischen Drohnenangriffen wirksam entgegenzuwirken, forderte Kowalenko eine Umrüstung dieser Abwehrgruppen: "Sie sollten zumindest über tragbare Flugabwehrsysteme wie Stinger,
Pirul, Igla und so weiter verfügen. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich
notwendig, das Kaliber und die Leistung der Vernichtungswaffen zu
erhöhen." Doch es mangelt an Material. Zum Beispiel erwiesen sich Vampire-Raketensysteme mit lasergesteuerten APKWS-Raketen, die die ukrainischen Streitkräfte zuvor aus den USA erhalten hatten, als sehr effektiv gegen Kampfdrohnen. Dazu haben sie eine nötige Reichweite von bis zu fünf Kilometern. Doch "wir haben jetzt nicht genug davon, wir haben sie einfach nicht", sagte Kowalenko.
Neben der Flughöhe stellt auch das Angriffsmuster die ukrainische Luftabwehr vor erhebliche Herausforderungen. Dabei stieg die Zahl der Drohnen pro Angriff auffällig. Darüber berichtete der Sprecher der Luftstreitkräfte, Jurij Ihnat, am 9. Juli, dem Tag des Rekordangriffs mit über 700 Drohnen vor allem auf die westliche Region Wolyn. Ihnat zufolge flogen die Drohnen zuerst in Gruppen sehr nah beieinander, sodass Radarsysteme häufig nicht eindeutig erkennen konnten, ob es sich "um eine einzelne Drohne, mehrere Drohnen, eine Attrappe oder sogar mehrere Attrappen handelte". Erst kurz vor dem Ziel hätten sie sich aufgeteilt und dann angegriffen.
Mit dem Begriff Attrappen bezieht Ihnat sich auf einen russischen Trick bei solchen Angriffen: Dabei werden einfache und billige Schaumstoffdrohnen eingesetzt, ausgestattet mit speziellen Linsen, die Radar reflektieren. Dadurch sollen sie wie echte Drohnen wirken. Walerij Romanenko von der Nationalen Luftfahrtuniversität der Ukraine beschrieb das Problem in der Zeitschrift New Voice so: "Wenn 400 Drohnen in der Luft sind, von denen 200 Attrappen sind, kann man oft nicht wissen, welche Drohne einen Sprengkopf hat und welche nicht. Wenn man aber Luftabwehrmittel für alle 200 Attrappen ausgibt, dann erreichen die Russen ihr Ziel." Attrappen dienen somit vor allem dazu, die Luftabwehr abzulenken und die Ukraine zu zwingen, wertvolle und begrenzte Luftabwehrraketen gegen sie zu verwenden.
Einige Attrappen sind inzwischen mit kleinen Sprengsätzen, Schrapnell oder Aufklärungstechnik ausgestattet. Sie können zwar kein ganzes Gebäude zerstören, aber Räume verwüsten, Brände auslösen oder Menschen verletzen.
Zu den häufig eingesetzten Kampfdrohnen gehören iranische Shahed-136, die Russland zu Geran 2 umgebaut und technisch weiterentwickelt hat. Militärexperten veranschlagen für eine solche Drohne zwischen 20.000 und 50.000 US-Dollar. Die russische Variante ist mit Mobilfunk ausgestattet, was eine Echtzeitübertragung von Flugdaten ermöglichen und ukrainische Abwehrmaßnahmen umgehen soll. Zudem wurde die Sprengladung von ursprünglich 50 auf 90 Kilogramm erhöht – vergleichbar mit einer kleinen Fliegerbombe. Auch die Geschwindigkeit wurde gesteigert und erreicht nun bis zu 300 Kilometer pro Stunde, was die Drohnen schneller als ihre iranischen Prototypen macht.
Bei Bauteilen, insbesondere Elektronik, hat das ukrainische Militär zudem festgestellt, dass Russland nicht mehr so viele im Westen hergestellte Ersatzteile nutzt. Laut dem ukrainischen Aufklärungsdienst sind mittlerweile rund 65 Prozent der russischen Kampfdrohnen mit chinesischer Elektronik ausgestattet. Kowalenko sagte dazu: "Die Russen verwenden eine große Anzahl in China hergestellter Mikrochips, Mikroschaltungen, Halbleiterelemente und Batterien. China ist heute stärker am russischen Terror beteiligt als der Iran."
Angesichts der Tatsache, dass die ukrainische Armee unter starkem Ressourcenmangel leidet – insbesondere bei Luftabwehrsystemen und Munition –, setzt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verstärkt auf eigene, kostengünstige Abfanggeräte, die häufig für etwa 500 US-Dollar hergestellt werden können. Diese relativ preiswerten Abfangdrohnen ergänzen die konventionellen Luftabwehrsysteme und ermöglichen es der Ukraine, die massiven russischen Drohnenangriffe trotz begrenzter Mittel besser zu bewältigen. Weil sie im eigenen Land entwickelt und hergestellt werden, können sie schnell an neue Bedrohungen angepasst und in großer Stückzahl eingesetzt werden. Immer vorausgesetzt, das Geld dazu ist vorhanden.
Deshalb warb Selenskyj diese Woche erneut um finanzielle Hilfe bei der Drohnenproduktion. "Russland will jeweils mit 1.000 Drohnen angreifen. Aber wir werden sie alle abwehren. Wir haben eine Lösung, um sie abzuschießen – Abfangdrohnen. Wenn unsere Partner alles hören, was ich ihnen gesagt habe, und über die entsprechenden Mittel verfügen, werden wir in der Lage sein, dies zu tun", sagte der Präsident bei der internationalen Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Rom.
Nach Angaben von Selenskyj gibt es bereits bewährte und wirksame
Technologien von mehreren Herstellern, die gegen die Shahed-Drohnen eingesetzt
werden können. "Es gibt vier ukrainische Unternehmen und ein amerikanisch-ukrainisches
Unternehmen, die die besagten Abfangdrohnen herstellen. Jetzt müssen wir die
Produktion ausweiten", forderte er.
Eines dieser Unternehmen ist anscheinend die Firma General Tschereschnja AIR, die speziell für Gegenmaßnahmen gegen feindliche Kampfdrohnen entwickelt wurde. Auf Facebook postete der Hersteller im Juli ein Video, das zeigt, wie eine russische Drohnenattrappe erfolgreich abgefangen wird. "Der Einsatz dieser Abfangdrohnen läutet eine neue Ära in der Luftverteidigungstaktik ein – sowohl an der Front als auch im Hinterland", schrieb der Drohnenhersteller im Post zum Video. Die Ukraine dringt auf rasche Umsetzung. Denn der Bedarf ist akut.
Auch internationale Sicherheitsexperten bestätigen inzwischen die zunehmende Wucht der Drohnenangriffe. Nach Einschätzung der US-Denkfabrik Atlantic Council produziert Russland mittlerweile über 5.000 Drohnen pro Monat – viele davon mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, um Ziele präziser zu erfassen und zu treffen. Das Institute for the Study of War (ISW) warnt vor einer möglichen weiteren Eskalation: Russland arbeite intensiv daran, seine Produktionskapazitäten weiter auszubauen. Schon bald könnte das Land in der Lage sein, die Ukraine mit bis zu 1.000 Drohnen pro Nacht anzugreifen.
1.234 Tage seit Beginn der russischen Großinvasion
Die Zitate: Neue Rhetorik, alte Unsicherheit
US-Präsident Donald Trump hat sich ungewohnt kritisch über den russischen Präsidenten Wladimir Putin geäußert. Bei einem Auftritt im Weißen Haus zeigte sich Trump mit Putin sehr unzufrieden.
In den vergangenen Monaten änderte Donald Trump seine Haltung zum Krieg in der Ukraine mehrfach. Zeitweise vertrat er nach Einschätzung von Expertinnen und Experten Positionen, die der russischen Sichtweise nahekommen. Nun aber deutet sich ein Kurswechsel an: Laut einem Bericht des Wall Street Journal erwägt Trump angesichts der anhaltenden russischen Angriffe, der Ukraine zusätzliche militärische Unterstützung bereitzustellen – darunter ein weiteres Patriot-Luftabwehrsystem.
Trotz der gemäßigteren Rhetorik bleibt offen, ob Trump tatsächlich zu einem Kurswechsel bereit ist. Eine verbindliche Zusage für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine hat er bislang nicht gemacht. Sollte er diesen Schritt gehen, käme das einem Bruch mit seiner bisherigen Linie gleich – und würde eine Ausweitung der US-Unterstützung über das bisherige Niveau der Biden-Regierung hinaus markieren.
Die aktuelle Debatte über Waffenlieferungen unterstreicht zugleich die zentrale Rolle der Nato. Sie zeigt, wie sehr Europas kollektive Sicherheit und das transatlantische Bündnis von entschlossenem, gemeinsamem Handeln abhängen. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte am 9. Juli bei einem Festakt zum 70. Jahrestag des deutschen Nato-Beitritts, Deutschland wolle in dieser Phase eine Führungsrolle im Bündnis übernehmen. Die Nato sei in der Lage, auf die Herausforderungen einer veränderten sicherheitspolitischen Lage zu reagieren – insbesondere auf die Bedrohung, die vom russischen Angriffskrieg ausgeht:
Der Regierungschef stellte der Ukraine weitere Unterstützung beim Ausbau ihrer Luftverteidigung in Aussicht. Zugleich begrüßte er Signale aus den USA, wonach die Unterstützung Kyjiws in diesem Bereich doch noch einmal überdacht werde. In dieser Frage, sagte Merz, stehe er in einem "guten Austausch" mit US-Präsident Donald Trump.
Die wichtigsten Meldungen:
- Gerichtsurteil gegen Russland für Abschuss von MH17: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Russland für den Abschuss des Passagierfluges MH17 im Jahr 2014 und für "wiederholte und eklatante" Menschenrechtsverstöße in der Ukraine verantwortlich gemacht. Das Gericht urteilte, die russische Regierung habe hinter dem Angriff gestanden, bei dem 298 Menschen getötet wurden.
- Darüber hinaus sah das Gericht es als erwiesen an, dass Russland ein System von Menschenrechtsverstößen etabliert habe – darunter wahllose Angriffe, gezielte Tötungen, Folter, Vertreibungen sowie die Unterdrückung der ukrainischen Sprache an Schulen.
- Russland erkennt das Gerichtsurteil nicht an. Das Gericht forderte die Regierung in Moskau zwar auf, alle unrechtmäßig festgehaltenen Menschen freizulassen und deportierte Kinder schnellstmöglich zu identifizieren und zurückzuführen. Doch Russland bezeichnete das Urteil als "null und nichtig". Die Russische Föderation werde sich nicht daran halten, sagte der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow.
- Der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha bezeichnete die Entscheidung des EGMR als "gelebte Gerechtigkeit". Das Urteil sei ein weiterer Beleg für die Absichten Russlands, die auf Völkermord sowie die Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit und die Unterwerfung des ukrainischen Volkes abzielten. Das Urteil schaffe eine wichtige rechtliche Grundlage für die Ukraine und ihre Partner, um neue Klagen einzuleiten und Sanktionen einzuführen.
- So viele getötete Zivilisten wie noch nie: Im Juni hat die UN-Beobachtungsmission in der Ukraine die höchste Zahl an zivilen Kriegstoten in den vergangenen drei Jahren verzeichnet. Mindestens 232 Zivilisten seien in jenem Monat getötet und 1.343 weitere verletzt worden, teilte die UN-Menschenrechtsbeobachtermission in der Ukraine am Donnerstag mit.
- Wiederaufbaukonferenz: Friedrich Merz hat gefordert, dass Russland für die Zerstörungen in der Ukraine infolge des Angriffskriegs finanziell aufkommen muss. "Wir gehen von rund 500 Milliarden Euro Sachschäden aus", sagte der Bundeskanzler am Donnerstag bei der Wiederaufbaukonferenz in Rom.
- EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte ein neues Finanzpaket für die Ukraine in Höhe von 2,3 Milliarden Euro an. Mit dem Geld sollten Investitionen von mehr als zehn Milliarden Euro für "Wachstum, Erholung und Wiederaufbau" mobilisiert werden, kündigte von der Leyen an.
- Friedenstruppen für Ukraine: Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs haben ihre Vorbereitungen zur Sicherung eines möglichen Waffenstillstands in der Ukraine abgeschlossen. Das teilten der britische Premier Keir Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 10. Juli mit. Im Fall eines langfristigen Waffenstillstands wollen sie gemeinsam mit anderen Verbündeten Friedenstruppen in die Ukraine schicken. Deutschland und USA lehnen eine eigene Beteiligung bisher ab.
- Spionage: Diese Woche ist bekannt geworden, dass der ukrainische Geheimdienst SBU zwei chinesische Staatsbürger in Kyjiw festgenommen hat. Sie sollen versucht haben, Unterlagen über die Produktion ukrainischer Neptun-Raketen außer Landes zu bringen. Eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums sagte, dass China die Situation derzeit analysiere.
Waffenlieferungen und Militärhilfen:
- Tschechien hat ein Ausbildungsprogramm für acht ukrainische F-16-Piloten genehmigt. Laut Verteidigungsministerium soll die Schulung bis Ende 2026 laufen und rund 150 Flugstunden umfassen. Die Kosten werden aus dem bestehenden tschechischen Verteidigungsetat finanziert.
- US-Präsident Donald Trump hat im Gespräch mit dem Sender NBC News angekündigt, der Ukraine künftig Waffen über die Nato zu liefern. Laut Medienberichten könnte das Paket einen Wert von rund 300 Millionen Dollar haben und Patriot-Abwehrraketen sowie Mittelstreckenraketen umfassen.
- Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind Deutschland und Norwegen bereit, drei Patriot-Flugabwehrraketensysteme für die Ukraine zu kaufen.
- Das italienische Außenministerium hat beschlossen, eine Million Euro für die Unterstützung der Ukraine im Cyberbereich bereitzustellen.
- Das Vereinigte Königreich plant die Lieferung von 5.000 Thales-Luftabwehrraketen an die Ukraine. Das bestätigte die britische Regierung.
Die vergangene Folge des Wochenrückblicks finden Sie hier.
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