Kolumne „Zurück zur Natur“: Bitte nicht füttern!

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In seinen Erinnerungen an das Paris seiner Kindheit im Exil Ende der Dreißigerjahre schreibt der Schriftsteller, Filmemacher und Journalist Georg Stefan Troller über das Leben auf den Straßen, denn um in Geschäfte oder Restaurants einzutreten, fehlte dem Jugendlichen das Geld. Die Metro konnte er nicht bezahlen, manchmal konnte er wenigstens ein paar Stationen Bus fahren, indem er hinten auf einen vollen Bus aufsprang: Bis zu den Außenstehplätzen drangen die Kontrolleure in dem Gedränge und der Überfüllung selten durch, das war also sicher. Meistens aber ging der Heranwachsende zu Fuß. So erlief er sich einige Monate lang ganz Paris, bis er 1940 in eines der Internierungslager geschickt wurde, die das Schicksal der Emigranten in Frankreich wurden. Troller konnte flüchten, es gelang ihm, nach Paris zurückzukehren. Nach dem Krieg wurde er berühmt für seine Reportagen über diese Stadt, in der er überlebt hatte.

Als Junge überquerte er 1939 beim Herumstreifen die großen Boulevards; er suchte die Cafés und Künstlersiedlungen damals nach den Spuren ihrer berühmten Gäste ab und lernte, warum es überall „les petits zincs“ gab, die Kneipen des Viertels. Schließlich gab es lange nur in ihnen eisgekühlte Getränke. Wenige Wohnungen hatten in ihren Küchen große metallene Verschläge, in denen einmal in der Woche angelieferte, kommodengroße Eisblöcke eingelagert werden konnten. Nur von einem Viertel war der Fünfzehnjährige enttäuscht. Von den „sagenhaften Künstlerlokalen der letzten Jahrhundertwende“ schien in Montmartre kaum etwas geblieben. Im Gegenteil hatte es dort offenbar eine Wende zurück zur Natur gegeben: „Aufregendes hatte ich mir vom Montmartre versprochen. Aber dieser ‚Märtyrerberg‘ erschien mir doch seit seiner großen Zeit ins allzu Dörfliche zurückgesunken. Gab es da nicht sogar einen ganzen Bauernhof mit Schafen und Ziegen? Sowie einen Weinberg, der immerhin nur von den poules des Viertels abgeerntet werden durfte?“

Abschied vom Brauereipferd

Es waren aber keine Hühner, die Trauben pflückten, sondern Pariser ­filles, Schätzchen, die damaligen Sexarbeiterinnen. Ein Bauernhof mitten in Paris, das ist schon lange unvorstellbar. Höchstens auf den Dörfern halten sich die Leute Schafe, Ziegen, Hühner und Gänse in ihren Gärten. In den Städten muss man die Nutztiere suchen, vielleicht waren die Brauereipferde die letzten. In Bremen fuhren die Pferde von Beck & Co im Mai vor zwanzig Jahren zum letzten Mal Fässer aus. Die sechsstellige Summe pro Jahr wollte die Brauerei sparen. In Berlin-Charlottenburg stehen im Ziegenhof, einem 1982 eingerichteten Gemeinschaftsgarten, Ziegen und Hühner. Jeder kann Gemüse oder Heu mitbringen, um sie zu verwöhnen, und mitgärtnern ist möglich.

In manchen Städten gibt es sogenannte Domänen, das sind Teile des dem Staat gehörenden landwirtschaftlich genutzten Bodens. In Berlin ist das die Domäne Dahlem, in Wiesbaden die Domäne Mechtildshausen. In Bad Vilbel liegt der Dottenfelderhof. Dessen Flächen wurden bereits im 10. Jahrhundert landwirtschaftlich genutzt. Im Jahr 976 unterzeichnete Kaiser Otto II. eine Lehens-Urkunde, mit der die Äcker, Wiesen und Gebäude an das Kloster Worms übergeben wurden. Der Name lautete noch etwas anders: „Dudtunfeld“. Mit der Säkularisation ging das Hofgut 1803 an die Landgrafen von Hessen, die es einhundertfünfzig Jahre lang bewirtschafteten. Die Bodenreform 1951 bedeutete einen erneuten Wechsel der Eigentümer. Die Nassauische Siedlungsgesellschaft hielt das Gelände nicht zusammen, etwa 30 Hektar gingen durch Verkäufe verloren für Anbau und Weidehaltung. Das spiegelt ganz gut die einander ausschließenden Nutzungen von Städten für ihr Umland. Mit der Einführung der Kanalisation verwandelte man die Natur um die Städte herum in sogenannte Rieselfelder zur Entsorgung der Abwässer. Gleichzeitig erhöhten das Wachsen der Stadtbevölkerung und die stetige Verbesserung der Lebensverhältnisse den Bedarf an Wohnraum. So braucht die Stadt die Fläche zur Entsorgung und zur Erzeugung von Lebensmitteln und will sie gleichzeitig verbrauchen und die Natur verdrängen.

Die rund 80 Milchkühe auf dem Dottenfelder Hof bekommen im Sommer Gras und Luzerne frisch vom Acker.Die rund 80 Milchkühe auf dem Dottenfelder Hof bekommen im Sommer Gras und Luzerne frisch vom Acker.Lando Hass

150 Hektar Land sind es noch, die auf dem Dotti, wie der Hof genannt wird, biodynamisch bestellt werden. Seit 1968 führt ihn eine Betriebsgemeinschaft, zuerst in Pacht vom Hessischen Landwirtschaftsministerium. Heute gehören die Gebäude und etwa 20 Hektar der gemeinnützigen Landbauschule Dottenfelderhof e. V., 130 Hektar wurden vom Land Hessen an die Landbauschule verpachtet – ähnlich wie bei der Domänenpacht andernorts. Die Gemeinschaft hat sich 1995 in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt. In die Landwirtschaftsgemeinschaft kann man mit einer Einlage und einem Jahresbeitrag eintreten. Vom 13. bis zum 22. Juni laden die Mitarbeiter täglich um 11 und um 16 Uhr zu Hofführungen ein, bei denen Ställe, Felder und Gärten gezeigt werden. Ganzjährig gibt es wie auch auf vergleichbaren Höfen viele thematische Führungen, Besuche bei den Hühnern, Wildkräuterseminare, Backseminare, Obstbaumschnittseminare, Tomatenseminare. Man kann lernen, Käse selbst zu machen oder Bienen zu verstehen. Die Jahreszeitenwerkstatt presst im September Apfelsaft und bindet im Dezember Adventskränze. Viele Angebote für Kinder und Familien ergänzen das Programm des Schulbauernhofs.

Es ist bewundernswert, dass die landwirtschaftliche Arbeit dieses Gewimmel von Wissbegierigen und Landhungrigen mit ihren Rollern, Fahrrädern, Dreirädern und Kinderwagen erträgt. Deswegen erinnert der Hof auch sanft in seinen Veranstaltungskalendern daran, dass es sich um ein richtiges Landgut und nicht um ein Museum oder einen Streichelzoo handelt und dass man aufpassen soll, wenn der Trekker um die Ecke biegt. Also: Bitte nicht füttern und nicht auf den Mulcher klettern!

Mit der Landbauschule ist 1972 eine biologisch-dynamische Lehr- und Versuchsanstalt eingerichtet worden, in der auch geforscht wird. Die naturnahe und ganzheitliche Landwirtschaft nach Demeter-Regeln ist besonders einladend für Städter, die begreifen wollen, wie Essen auf den Tisch kommt, und anschaulich für Kinder, die nur noch Fleisch kennen, dessen Form nicht an das Tier, von dem es kommt, erinnert, oder vegane Lebensmittel, die solche Schnitzel nachahmen. Es wäre schön, wenn die Ziegen auch nach Montmartre zurückkehrten.

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