Die Kanadier verstanden sich immer als etwas unaufgeregter und höflicher als die Amerikaner. Doch Donald Trump hat etwas mit ihnen gemacht. Seine Drohungen, Kanada zum 51. Staat der USA zu machen, haben einen lodernden Patriotismus entfacht.
Die sechs Geschwister der Familie Caruso sind absolut typische Kanadier. Wie rund ein Drittel der Bevölkerung haben auch sie einen Migrationshintergrund und sprechen die beiden Landessprachen Englisch und Französisch fließend durcheinander. Gleichzeitig sind die Carusos so italienisch, wie es nur geht. Für sie alle steht die Familie im Mittelpunkt.
ZEIT ONLINE hat die Familie in Montreal besucht, um über kanadisches Selbstbewusstsein zu sprechen und das Verhältnis zum Nachbarn im Süden. Es ist ein Sonntagnachmittag Anfang Mai, das Treffen findet bei Enrico, 59, statt. Er hat Pasta mit Erbsen gekocht, dazu Löwenzahnsalat. Vier der sechs Geschwister sind gekommen. Um den Tisch sitzen Antonella Caruso, 55, ihre Freundin Marie France, 54, Anna Caruso, 49, mit ihrem Mann Germain Benoit, 49, und ihrer Tochter Olivia, 21, Danilo Caruso, 47, und sein Sohn Nicholas, 15.
ZEIT ONLINE: Haben Sie gehört, dass Donald Trump gerne Papst geworden wäre? "Ich selbst wäre meine erste Wahl", hat er gesagt.
Danilo: Ja, unglaublich!
Anna: Was für ein Arschloch! Wisst ihr noch, unsere Mutter, die ja überhaupt nicht religiös war, hat immer den Papstkanal im Fernsehen geschaut. Das war reine Folklore für sie und trotzdem kann ich mir genau vorstellen, wie sie heute auf Trump reagieren würde.
Enrico: Du meinst, welche neapolitanischen Schimpfwörter ihr eingefallen wären, um den orangefarbenen Pavian in Washington zu beschreiben? Die kann man schwer übersetzen und druckreif sind sie garantiert nicht.
Alle lachen.
ZEIT ONLINE: Er hat das eindeutig im Scherz gesagt.
Antonella: Das ist egal. Es geht darum, dass dieser Idiot einfach respektlos ist. Es gibt ja viele Männer, die so breitbeinig durch die Welt laufen wie er, und es gibt auch viele, die so tun, als gehörte ihnen die Welt. Aber Trump läuft breitbeinig durch die Welt und glaubt tatsächlich, dass er der Reichste, der Klügste und der Coolste ist. Der hat null Bodenhaftung. Keinen Bezug zur Realität und das macht ihn auch gefährlich.
Germain: Ich sehe das auch so. Dass Kanada der 51. Staat der USA werden sollte, klingt ja auch wie ein Scherz, war aber vollkommen ernst gemeint.
ZEIT ONLINE: Dennoch, Trump sagt oft Dinge, die er vielleicht so meint, die er aber niemals umsetzen könnte. Kanada ein Teil der USA, wie soll das gehen? Glauben sie ernsthaft, dass Trump zum Telefonhörer greift und seinem Verteidigungsminister befiehlt, die militärische Invasion von Kanada vorzubereiten?
Germain: Warum nicht?
Anna: Seit seiner Inauguration hat er durchgehend eine offensive Kriegsrhetorik gebraucht, die eindeutig auf eine imperialistische Außenpolitik hindeutet. Der Golf von Mexiko heißt auf Google jetzt tatsächlich Golf von Amerika, weil Trump es so will. Er kündigte an, dass die USA sich den Panamakanal zurückholen werden. Als es darum ging, Grönland zu einem Teil des amerikanischen Einflussgebiets zu machen, schloss er militärische Gewalt ausdrücklich nicht aus. Wieso sollte also eine gewaltsame Annexion Kanadas nicht auch möglich sein?
Antonella: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass ein Mann im Alleingang die westliche Weltordnung aus den Angeln hebt, mit der die Welt 80 Jahre lang relativ friedlich gelebt hat.
Enrico: Moment mal. Das stimmt ja nun auch nicht. Erstens macht Trump das nicht im Alleingang, sondern weil er die Wahlen im November eindeutig gewonnen hat. Er hat also ein Mandat von der Mehrheit der amerikanischen Wähler ...
Antonella: ... ein Mandat, internationale Freihandelsverträge wie den zwischen Kanada, den USA und Mexiko mit seiner absurden Zollpolitik zu brechen? Das meine ich auch mit Respektlosigkeit. Wir haben internationale Verträge und Regeln aus gutem Grund. Sie machen das Leben für die Menschen sicherer und einfacher, und nun kommt dieser Schwachkopf daher und jagt alles in die Luft. Es wäre meiner Meinung nach gefährlich, wenn man dem Mann nicht alles zutrauen würde.
Danilo: Es mag sein, dass Trumps Gebaren für Außenstehende und vielleicht gerade für Europäer schlicht überzogen und unglaubwürdig klingt. Man darf aber nicht vergessen, dass wir ein besonderes Verhältnis zu Amerika haben. Es sind unsere Nachbarn. Wir teilen die längste ungeschützte Ländergrenze der Welt mit ihnen. Sie sind unsere wichtigsten Handelspartner und militärisch sind wir ebenfalls auf die USA angewiesen. Mit anderen Worten, Amerika ist absolut ein wichtiger Teil Kanadas und auf einmal können wir uns auf diesen Teil nicht mehr verlassen und das führt ganz einfach zu Unsicherheit und vielleicht auch zu Panik.
Enrico: Ja, richtig. Sie sind ein Teil von uns und gleichzeitig sind wir Kanadier eben auch ganz anders.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Enrico: Wer unmittelbar neben der größten Militärmacht der Weltgeschichte lebt, der verliert seine eigene militärische Tradition. Kanada hat an der Seite der Briten in zwei Weltkriegen gekämpft, aber nach 1945 haben wir, obwohl wir Mitglied der Nato sind, alles Militärische unseren Nachbarn überlassen. Die UN-Blauhelme, also internationale Friedenstruppen der UN, wurden 1956 von dem kanadischen Außenminister Lester B. Pearson erfunden und das ist fast symbolisch für den ganz anderen Weg, den Kanada gegangen ist. Wir lieben die Underdogs. Terry Fox ist ein typischer Nationalheld für Kanada. Im Alter von 18 Jahren erkrankte er an Knochenkrebs, verlor ein Bein und entschloss sich dennoch, in einem Marathon pro Tag vom Atlantik bis zum Pazifik einmal quer durch Kanada zu laufen. Das ist typisch kanadisch. Oder schauen Sie sich unser Gesundheitssystem an. Es basiert auf dem Prinzip der Umverteilung, wie in Europa. Kanada ist europäischer als die USA. Wir haben einen ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl.
ZEIT ONLINE: Die erste Amtszeit von Donald Trump begann 2016. Die Welt hatte also zehn Jahre Zeit, sich an ihn zu gewöhnen. Wie haben Sie alle Trump und die MAGA-Bewegung damals wahrgenommen?
Danilo: Zuerst hatte ich irgendwie Mitleid mit den Amerikanern, dass da jemand im Weißen Haus war, der offenbar nicht alle Tassen im Schrank hat. Für den Rest seiner ersten Amtszeit habe ich ihn dann mehr oder weniger ignoriert und dann kam der 6. Januar 2021, als seine Anhänger das Kapitol in Washington stürmten. Da habe ich gedacht, das war's. Wir schlittern jetzt direkt in einen Bürgerkrieg. Es war verdammt beängstigend.
Anna: Mich hat von Anfang an besorgt, dass Trump und MAGA auch bedeutete, dass religiöse Konservative im Aufwind waren. Als Tochter von Einwanderern bin ich in Kanada ohne jegliche Diskriminierung aufgewachsen. Ich konnte alles machen. Und dann sehe ich, wie in den USA diese Errungenschaft in der Gleichbehandlung der Geschlechter auf einmal quasi wieder abgeschafft und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft auf die Gebärmutter reduziert wird. Das macht mir Angst.
ZEIT ONLINE: Sie meinen das Recht auf Abtreibung, das 1973 als verfassungsrechtlich anerkannt und 2022 in einem Urteil des Obersten Gerichtshofes wieder abgeschafft wurde.
Anna: Ja genau.
Olivia: Der Fötus hat also mehr Rechte als ich!
ZEIT ONLINE: Gibt es diese konservativen Strömungen in Kanada gar nicht?
Germain: Doch schon, aber eigentlich nur in Provinzen wie Alberta und Saskatchewan. Dort, wo sie nach Öl bohren. Dort leben die Texaner von Kanada, wenn sie so wollen.
ZEIT ONLINE: Vermutlich findet Trump in diesen Provinzen sogar Zuspruch mit seiner Idee, Kanada zu annektieren.
Antonella: Die können ruhig weiter träumen. Es wird nie und nimmer passieren.
Germain: Ich bin ein in der Wolle gewaschener Quebecer. Das heißt, meine erste Sprache ist Französisch, und ich habe in meinem Leben auch schon für eine Partei gestimmt, die sich für die Unabhängigkeit der Provinz Quebec einsetzt. Heute zählt das für mich nicht mehr. Ich würde nicht zögern, Kanada mit Waffen gegen die USA zu verteidigen, und meine drei Kinder würden das, glaube ich, auch tun.
Olivia: Als Krankenschwester würde ich wahrscheinlich nicht in den Krieg ziehen müssen, aber ich würde mich vor einem Konflikt und den Folgen nicht drücken.
ZEIT ONLINE: Bevor es dazu kommt, lassen Sie und viele Kanadier erst mal ihre wirtschaftlichen Muskeln spielen.
Alle im Chor: Boycott USA. Yeahhh!
Enrico: Ich habe jahrzehntelang in Großbritannien gelebt und bin erst seit ein paar Jahren wieder hier, aber ich muss sagen, die Boykottbewegung gegen die USA, die Trump ausgelöst hat, war echt beeindruckend. Auf einmal ging da ein Ruck durch das Land, der überall zu spüren war. Die echte Leidenschaft, mit der Kanadafans beim Eishockey die Nationalhymne gesungen haben, wie sich die Menschen in ihren Posts auf sozialen Netzwerken von den USA distanziert haben, wie sie auf Mark Carney angesprungen sind, als er den Slogan "Elbows Up" im Wahlkampf benutzt hat und dann schließlich, wie rasant die Boykottbewegung sich ausgebreitet hat. Das alles war unglaublich, und wenn ich so von Kanada rede, kriege ich eine Gänsehaut. Ich bin total stolzer Kanadier.
Alle durcheinander: Ja, ja, jawohl. Absolut. Da bist du nicht der Einzige, Bruder.
Anna: Enrico hat recht, es war irre, wie schnell es Einkaufs-Apps gab, mit denen man kanadische oder nicht amerikanische Ersatzprodukte für so ziemlich alle Haushaltsartikel finden konnte. Vom Aufsatz für die elektrische Zahnbürste bis zum Fußbodenreiniger.
Antonella: Es ist auch erstaunlich, wenn man merkt, wie gedankenlos man oft einkauft. Ob es nun Katzenstreu oder Rotwein ist, eigentlich gibt es für alles einen kanadischen Ersatz.
Danilo: Außer für Coca Cola, und kanadischer Rotwein ist auch eher was für Nichtgenießer.
Antonella: Einverstanden. Rotwein lieber aus Italien, und auf Coca Cola muss man eben ganz verzichten. Es muss ja auch ein bisschen wehtun, sich für eine gute Sache einzusetzen.
Anna: Wisst ihr, was mich total nervt? Dass es keinen kanadischen Senf gibt. Ich habe das recherchiert. Wir verkaufen tonnenweise Senfkörner an die Amerikaner, aber es gibt keinen kanadischen Senf. Und der französische ist mir einfach zu teuer, den kauf ich nicht.
Germain: Ich baue gerade unseren Keller aus und habe gemerkt, dass sich die kanadische Heimwerkerindustrie vor den Produkten aus den USA nicht verstecken muss. Vieles ist sogar besser und billiger. Auf eine Art ist das ja schon ein Kriegszustand, in dem wir jetzt sind. So eng wie die beiden Länder wirtschaftlich miteinander verwoben sind, wird Kanadas Wirtschaftsboykott auch viele Amerikaner treffen, die für die Demokraten gestimmt haben und Trump genauso ablehnen wie wir.
Enrico: Ich glaube, du hast recht. Denn der Boykott geht ja weit über Senf und Sägeblätter hinaus. Ich habe kürzlich Freunde in New York besucht, und an der Grenzkontrolle bei der Einreise aus Kanada stand fast kein Mensch. Es gibt jeden Tag mehr als ein Dutzend Verbindungen zwischen Montreal und New York, aber mittlerweile schmeißen die Airlines dir die Flüge hinterher, weil niemand mehr dahin will, bis der Spuk mit Trump vorbei ist.
Anna: Meine Schwiegereltern haben auch erzählt, dass viele ihrer Freunde ihre Ferienwohnungen in Florida verkaufen wollen. Es gibt auch andere Rentnerparadiese, sagen sie.
ZEIT ONLINE: Mark Carney hat sich bei seinem ersten Treffen mit Donald Trump letzte Woche im Oval Office gut geschlagen. Meinen Sie, dass er der Richtige ist, um sich für Kanada gegen Trump durchzusetzen?
Danilo: Auf jeden Fall. Trump und unser früherer Premierminister Trudeau haben sich gehasst. Angeblich hat Trump ihm übel genommen, dass seine Frau Melania ihn bei irgendeinem Anlass vor laufenden Fernsehkameras etwas zu begeistert begrüßt hat. Wie auch immer, schon in seinem Auftreten hat Carney etwas Staatsmännisches und ich glaube, das beeindruckt Trump.
Antonella: Man kann es nur hoffen. Sonst haben wir ein echtes Problem.