Bewohner von Tel Aviv in einem der Schutzräume © Avishag Shaar-Yashuv/The New York Times/laif
Die iranischen Vergeltungsschläge treffen Israel viel stärker, als viele erwartet hatten. Im Land wachsen die Zweifel, ob Netanjahu noch der richtige Regierungschef ist.
16. Juni 2025, 17:47 Uhr
Mit jedem neuen iranischen Gegenschlag zeigt sich, wie verwundbar auch Israel trotz seines umfassenden militärischen Abwehrsystems ist. Allein im Großraum Tel Aviv trafen iranische Raketen mittlerweile so gut wie jeden Vorort. Zerstörte Straßenzüge, in sich zusammengesackte Häuser, Bergungsteams, die unter den Trümmern nach Überlebenden suchen: 24 Tote zählten die Behörden, seit Israel in der Nacht zum Freitag mit seinen Angriffen auf das iranische Regime begann. Mehr als 600 Menschen wurden demnach verletzt.
Spricht man mit Menschen in Israel, sagen viele, dass dieser Krieg unvermeidbar gewesen sei. Aber je mehr schlaflose Nächte sie verbringen, je näher die Einschläge kommen, je öfter die Warn-App neue Angriffe ankündigt, desto stärker weicht die Abgeklärtheit der Angst. In den unterirdischen Luftschutzbunkern, in die die Anwohner flüchten, sitzt man dicht gedrängt zusammen, redet, bis jemand "Ruhe" ruft, weil oben, über die Erde, Explosionen zu hören sind. Dann knallt und knallt es, bis es irgendwann wieder ruhiger wird. Dann wagen sich die Ersten nach oben und fragen: Wie lang soll das so weitergehen?
Die Strategie von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist bisher, in seinen Ansprachen zu drohen. Perspektiven zur Deeskalation präsentiert er keine. In einer Videobotschaft nach Beginn der israelischen Angriffe wandte er sich direkt an das iranische Volk: "Das islamische Regime, das Sie seit fast 50 Jahren unterdrückt, droht damit, unser Land, den Staat Israel, zu zerstören", sagte er. "Das Ziel der israelischen Operation ist es, die nukleare und ballistische Bedrohung durch das islamische Regime zu vereiteln. In dem Maße, in dem wir unser Ziel erreichen, machen wir auch den Weg für Sie frei, um Ihre Freiheit zu erlangen."
Netanjahus gravierendes Problem
Tatsächlich teilen in Israel viele Menschen die Hoffnung, das iranische Regime derart zu schwächen, dass sich die dort unterdrückte Bevölkerung gegen die Führung erhebt. Gleichzeitig aber wächst die Skepsis, ob Netanjahu für einen solch riskanten Krieg der richtige Regierungschef ist. Selbst die eher konservative Jerusalem Post ruft in ihrem Leitartikel Netanjahu dazu auf, eine neue Einheitsregierung zu bilden. "Sie müssen nur zusammenkommen und beweisen, dass wir im Inneren genauso stark sind, wie wir es sind, wenn wir unsere Feinde bekämpfen", heißt es in dem Meinungstext. "Doch diese Operation darf nicht dazu führen, dass Israel tiefer in den Schlamm sinkt, aus dem es nicht mehr herauskommt." Sie müsse Frieden und Ruhe in der Region ermöglichen.
Im zurückhaltenden Ton beschreibt der Leitartikel ein gravierendes Problem Netanjahus: Die Eskalation gelingt ihm, eine politische Lösung zur Deeskalation aber lässt seine Politik vermissen. Infolge des verheerenden Angriffs der terroristischen Hamas am 7. Oktober 2023 hat Israel taktisch große Erfolge erreicht. Sein Militär hat die libanesische Hisbollah als wichtigsten Stellvertreter Irans als auch die Hamas im Gazastreifen militärisch derart geschwächt, dass beide Terrormilizen nichts zur Unterstützung des Regimes in Teheran beitragen können. Anstatt diese militärische Überlegenheit jedoch zu nutzen, um die Sicherheitslage zu stabilisieren, eskaliert Netanjahu die Konflikte weiter – vor allem im Gazastreifen. Der Angriff auf den Iran erfolgte nur wenige Wochen, nachdem Netanjahu die vollständige Besatzung des palästinensischen Gebiets erklärt und Israel damit international noch weiter isoliert hat.
Menschenrechtsorganisationen konstatieren, Netanjahu habe den Iran nur angegriffen, um von neuen Kriegsverbrechen im Gazastreifen abzulenken. International wachsen auch Zweifel daran, ob Israel – wie erklärt – tatsächlich im Iran bloß präzise militärische Ziele angreift. Die iranische Regierung hat die Zahl der Toten bislang nicht bekanntgegeben. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Activists aber starben durch israelische Angriffe bisher mindestens 406 Menschen, mindestens 197 davon seien Zivilistinnen und Zivilisten. Die Organisation mit Sitz in Washington, D. C. stützt sich dabei auf ein Netzwerk von Quellen innerhalb des Landes.
Vertrauen in die Schutzräume könnte sinken
Mit seinen Gegenschlägen demonstriert das iranische Regime derweil, dass es Ziele viel präziser treffen kann als angenommen. Die Abfangquote der israelischen Raketenabwehr liegt zwar bei etwa 90 Prozent. Dennoch schlugen in den vergangenen Tagen Geschosse in der Ölraffinerie in Haifa ein und im Zentrum von Tel Aviv. Aus Sicherheitsgründen veröffentlicht Israels Armee nur zivile Einschlagorte. Die iranischen Raketen seien mit Sprengköpfen von bis zu 900 Kilogramm bestückt, berichten israelische Medien. Damit richten sie viel größere Schäden an, als es Israel erwartet hatte.
Amos Harel, Militärexperte der linken Zeitung Ha’aretz, rechnet mit einem baldigen Stimmungswechsel in der israelischen Bevölkerung. "Mit der Zeit wird es für Netanjahu immer schwieriger werden, einen großen Teil der israelischen Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass seine Absichten aufrichtig und seine Entscheidungen richtig sind", analysierte Harel nach den ersten iranischen Gegenschlägen am Wochenende.
Seitdem ist die Zahl der israelischen Opfer stark gestiegen. Unter den Toten sind nach Angaben der israelischen Armee auch zwei Menschen, die sich in ihrem privaten Schutzraum in Sicherheit gebracht hatten. Innerhalb der Armee wächst nun die Sorge, die Menschen könnten das Vertrauen in die Schutzräume verlieren und sie meiden, berichteten israelische Medien.