Internationaler Haftbefehl: Handschellen für Netanjahu?

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Seit einer Woche wird Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht, wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und noch immer scheint die Bundesregierung um eine klare Haltung dazu verlegen zu sein.

Würde Netanjahu, wenn er deutschen Boden beträte, tatsächlich verhaftet und nach Den Haag ausgeliefert werden? Eine Antwort darauf blieb der Regierungssprecher Steffen Hebestreit am vergangenen Freitag schuldig. Stattdessen wich er vor Journalisten aus, sprach davon, man nehme die Entscheidung aus Den Haag „zur Kenntnis“ und müsse nun erst die eigene rechtliche Haltung dazu „prüfen“. Ergebnis: offen.

Ist Deutschland als Mitgliedstaat des Strafgerichtshofs zur Kooperation verpflichtet?

Johann Wadephul, der für Außenpolitik zuständige Fraktionsvize der oppositionellen CDU, die womöglich schon bald in Regierungsverantwortung sein wird, sagte der FAZ nun gar: „Aus unserer Sicht ist es unvorstellbar, dass ein demokratisch gewählter Regierungschef von Israel auf deutschem Boden festgenommen wird.“ Und während in Ungarn und Tschechien die Regierungen schon offen angekündigt haben, den Haftbefehl gegen Netanjahu nicht gelten lassen zu wollen, hat auch die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) beim G-7-Gipfel in Italien nur eine dürre Kompromissformel über die Lippen gebracht. Niemand stehe über dem Gesetz, sagt sie. Ganz allgemein. Kein Wort zu Netanjahu im Besonderen.

Unter Fachleuten für Völkerrecht löst das Irritationen aus. So schwierig die politische Lage für Deutschland auch sei, wenn sich das Weltstrafgericht in Den Haag einmal nicht mit einer afrikanischen Diktatur befasse, sondern ausnahmsweise mit einem „befreundeten Staat“, sagt etwa der Göttinger Völkerrechtler Andreas Paulus: „Das ist kein Grund, um das Recht nicht zu beachten.“ Der Jurist Paulus war von 2010 bis 2022 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Er mahnt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung: Deutschland sei als Mitgliedstaat des Strafgerichtshofs – ebenso wie alle anderen Europäer im Übrigen – selbstverständlich zur Kooperation verpflichtet, „ob es leichtfällt oder auch nicht“.

Die Bundesrepublik hatte schon in den vergangenen Monaten zu jenen Staaten gehört, die juristisch an den Haager Strafgerichtshof appelliert hatten, er möge von seinen Ermittlungen gegen Netanjahu und Gallant ablassen. Ohne Erfolg allerdings. Die unabhängigen Richterinnen und Richter dort hatten bekräftigt, dass sie sich für zuständig hielten, auch wenn Israel kein Mitgliedstaat des Gerichtshofs sei.

Auch im Fall Putin ist der Haftbefehl für die Diplomatie ein Problem

Der Gerichtshof erkennt einen „Staat Palästina“ an und stützt seine Zuständigkeit darauf. Diese Entscheidung sei klar, sagt der Jurist Andreas Paulus. Und wenn die Bundesregierung dies nun nicht anerkennen würde, weil ihr das Ergebnis nicht passte, dann „untergräbt das die Geltung des Rechts“, warnt er.

Etwas mehr Verständnis zeigt ein weiterer Experte, Christoph Safferling, der die vom Auswärtigen Amt mitfinanzierte Völkerrechts-Akademie am historischen Ort der Nürnberger Prozesse leitet und die Idee eines Weltstrafgerichts stark befürwortet. „Natürlich ist der Haftbefehl gegen Netanjahu ein Problem für diplomatische Gespräche, für Friedensverhandlungen“, gesteht Safferling zu. „Bei Putin gilt das natürlich auch“, sagt er. Gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin hatte der Strafgerichtshof bereits im vergangenen Jahr einen Haftbefehl erlassen, vor allem wegen des Beschusses ukrainischer Städte und des Verbrechens der Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland. Ebenso gegen den russischen Verteidigungsminister und hohe Generäle.

„Man kann diese Leute nicht mehr zu Verhandlungen in ein Mitgliedsland des Internationalen Strafgerichtshofs einladen“, sagt der Völkerrechtler Safferling – das umfasst immerhin ganz Europa, Lateinamerika, das subsaharische Afrika. „Und das schränkt natürlich ein. Beinfreiheit ist, was die Diplomaten immer einfordern. Und das ist hier nicht mehr gegeben.“ Das Problem, dass politische Kompromisssuche und juristische Prinzipientreue sich gelegentlich beißen, ist bekannt – der ehemalige deutsche Außenstaatssekretär und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hatte deshalb auch im Fall Putins von vornherein öffentlich gegen ein Eingreifen der internationalen Strafjustiz plädiert.

Von Immunität für Staatschefs könne keine Rede sein, sagt Ex-Verfassungsrichter Paulus

Und nun im Falle Netanjahus: Die Regierung Frankreichs bemüht sich aktuell darum, zwischen Israel und der Hisbollah in Libanon eine Rolle als Maklerin einzunehmen. Frankreichs Bemühungen haben womöglich dazu beigetragen, dass jüngst ein Waffenstillstand vereinbart werden konnte – ein diplomatischer Erfolg. Gleichzeitig ist die Regierung in Paris plötzlich vom Völkerstrafrecht abgerückt. Man werde die „Immunität“ Netanjahus und andere israelischer Politiker respektieren, erklärte Frankreichs Außenministerium am Mittwoch überraschend. Zuvor hatte Frankreich noch zu jenen EU-Staaten gehört, die den Haftbefehl aus Den Haag kritiklos akzeptiert hatten.

Laut einem Bericht der israelischen Tageszeitung Haaretz soll diese französische Kehrtwende eine Bedingung Netanjahus gewesen sein, damit er dem Waffenstillstand zustimmt. Ein Schweigen der Waffen – oder eine Durchsetzung des Rechts? Angesichts dieses Dilemmas scheint sich Paris dagegen entschieden zu haben, am Ziel der Gerechtigkeit um jeden Preis festzuhalten.

Die rechtlichen Zweifel, auf die sich Frankreich nun offiziell beruft und die auch im Berliner Außenministerium angeblich aktuell „geprüft“ werden, seien indes bloß vorgeschoben, sagt der Ex-Verfassungsrichter Andreas Paulus. Von Immunität für Staatschefs könne vor internationalen Gerichten nämlich keine Rede sein. Das habe der Internationale Strafgerichtshof schon im Fall des sudanesischen Machthabers Omar al-Bashir unmissverständlich geklärt.

Deutschland war ein Vorreiter bei der Errichtung des Strafgerichtshofs

In Deutschland erinnern sich viele Juristen noch an die Vorreiterrolle, die einst die Bundesrepublik bei der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs spielte. Deutschland hatte weltweit für dieses Gericht geworben, und Deutschland hatte dann auch das meiste Geld hinzugegeben.

Einer, der in den 1990er-Jahren in der deutschen Delegation bei diesen Verhandlungen mitarbeitete, Andreas Zimmermann, ist heute Professor für Völkerrecht in Potsdam. Es habe eine besondere, historische Note, wenn heute führende Bundestagsabgeordnete wie Alexander Dobrindt (CSU) sagen würden, die Netanjahu-Entscheidung des IStGH sei eine „bodenlose Dummheit“, meint der Völkerrechtler.

Wenn Deutschland nun wirklich diesen Haftbefehl im Falle einer Einreise Netanjahus ignorieren würde, sagt Zimmermann, „dann würde sich Deutschland letztlich nicht besser verhalten als die Mongolei“. Der Hintergrund: Die Mongolei, ein Mitgliedstaat des Strafgerichtshofs, hatte kürzlich den russischen Präsidenten Putin zu Gast gehabt, ohne ihn zu verhaften.

In der kommenden Woche findet in Den Haag das jährliche Treffen aller 124 Vertragsstaaten des Strafgerichtshofs statt. Dabei steht ganz oben auf der Agenda die Frage, wie man die Mongolei nun für ihren Vertragsbruch abstrafen will.

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