Michael Haefliger, Sie haben an der Juillard School in New York Violine studiert und dann 1986 in Davos das Nachwuchsfestival Young Artists in Concert gegründet. War es für Sie schon damals klar, dass Sie auf die Veranstalterseite wechseln würden?
Ich hatte zwar immer eine starke unternehmerische Ader, vor allem was die kreative Konzeption und Organisation angeht. Aber dass ich Intendant werden wollte, wurde mir erst während der zwölf Jahre in Davos langsam bewusst. Das große Ziel war für mich schon damals Luzern. Hier hatte ich 1985 zusammen mit meinem Bruder Andreas am Klavier schon mein Debütkonzert gespielt.
Ein intaktes Festival, das aber natürlich viel kleiner war als heute. Mein Auftrag lautete, das nun weiterzuentwickeln. Ein Jahr zuvor war gerade der neue Konzertbau von Jean Nouvel eröffnet worden. Er bot nicht nur künstlerisch neue Möglichkeiten, sondern spielte auch eine wichtige Rolle beim Finden der Geldgeber. Es handelte sich also um eine unternehmerische Aufgabe, und ich wusste, wo ich meine Akzente setzen wollte. Wichtig war mir ein klares Bekenntnis zu einer Identität als produzierendes Festival, dazu ein Commitment für die zeitgenössische Musik und für junge Künstlerinnen und Künstler. Wir hatten in 26 Jahren dann über vierhundert Uraufführungen im Programm.
Das war auch ein Ertrag aus der 2004 mit Pierre Boulez gegründeten Lucerne Festival Academy. Und schon ein Jahr zuvor hatten Sie zusammen mit Claudio Abbado das Lucerne Festival Orchestra ins Leben gerufen.
Das waren zwei entscheidende Schritte für eine Neuorientierung. Als mir Claudio Abbado für das Festivalorchester zusagte, haben wir uns sofort in dieses Wagnis gestürzt. Schon der erste Auftritt löste beim Publikum eine unglaubliche Begeisterung aus, und es kamen Medien aus der ganzen Welt, was vorher nie der Fall war. Auch bei der Academy hatte ich großes Glück mit Pierre Boulez. Er hat sie hervorragend aufgebaut.
Einen ungewöhnlichen Akzent setzten Sie mit der Ark Nova, laut Ankündigung die „erste aufblasbare Konzerthalle der Welt und zugleich ein begehbares Kunstwerk“.
Eigentlich war das ein verrücktes Projekt, das gar nicht eingeplant war. Es entstand aufgrund der Katastrophe in Fukushima 2011, die mich damals sehr bewegt hat. Ich habe spontan meinen Freund, den Konzertagenten Masahide Kajimoto, in Japan angerufen und dann den Architekten Arata Isozaki, den ich schon länger kannte. Wir entwarfen den Plan einer mobilen Konzerthalle, um Konzerte für die dortige Bevölkerung zu geben, und beauftragten den indischen Künstler Anish Kapoor mit der Gestaltung. 2013 kam die Ark Nova erstmals in Matsushima in der Region Fukushima zum Einsatz, Gustavo Dudamel dirigierte die Eröffnung. 2017 wurde die Ark Nova dann auch mitten in Tokio aufgestellt. Von 2013 bis 2017 wurde sie insgesamt viermal bespielt, jeweils zwei Wochen lang mit einem bunten Programm von Klassik bis Jazz, auch das Lucerne Festival Orchestra trat in kleiner Besetzung auf.
Im September kommt die Ark Nova auch nach Luzern. Was erwartet uns da?
Es wird 35 kurze Konzerte innerhalb von zehn Tagen in der Ark Nova geben, auch hier mit Musik aller Gattungen und Stile. In dieser Hülle ist alles möglich, es kommt niemand und fragt: „Darf man das?“ Die vielen Tabus, die man im traditionellen Konzertbetrieb kennt, fallen weg. Das wird sehr entspannt und erlebnisintensiv werden.
Solche kulturpolitischen Initiativen gehören eigentlich nicht zum Arbeitsfeld eines Klassikintendanten. Hatten Sie nie Probleme mit Ihren Aufsichtsorganen?
Das war tatsächlich nicht vertraglich festgelegt. Streng genommen habe ich meinen Vertrag nicht erfüllt (lacht). Aber letztlich bekam ich immer Rückdeckung vom Stiftungsrat. Ich glaube, meine Stärke ist es, neue Projekte auf die Beine zu stellen. Kunst darf nicht langweilig sein. Wir sind in der Kultur oft in eng umzäunten Territorien unterwegs, da braucht es unbedingt Bewegung.
Gibt es bei solchen Projekten für Sie auch Vorbilder?
Ja, zum Beispiel Harald Szeemann. Als Kind nahm mich meine Mutter in Bern mit in seine Ausstellung „When Attitudes Become Form“, das hat mich nachhaltig geprägt. Auch die Aktionen von Christo. Und dann war da noch der Opernintendant Rolf Liebermann mit seiner Rhythmusmaschine.
„Les Echanges“ für 156 durch Lochstreifen gesteuerte Büromaschinen.
Genau. Ich habe ich immer gedacht, das sind ja wirklich verrückte, getriebene Leute. Als Intendanten sind wir Organisatoren mit einer finanziellen Verantwortung, aber am Ende des Tages sind wir gefordert, die Welt neu zu erfinden und nicht zu konsolidieren. Konsolidieren können andere. Wir müssen der Gesellschaft zeigen, dass sich etwas bewegt, und auch Dinge wagen, die scheitern können. Die Risiken kann man kalkulieren.
Sie haben nach Ihrer Davoser Zeit noch Wirtschaftswissenschaften studiert. Ist das heute unverzichtbar für einen Festivalleiter?
Ich war ein Künstler und wollte mir diese Kenntnisse unbedingt aneignen. Management kann man eigentlich nur in der Praxis lernen, aber ohne ein bestimmtes Basiswissen geht es heute nicht mehr, gerade bei einem Unternehmen, das sich wie das Lucerne Festival zu 90 Prozent selbst finanziert. Und nicht zu vergessen: In den Bereichen Strategie und Innovation gibt es viele Schnittpunkte zwischen Kunst und Wirtschaft.
Ein Festival ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Im Januar dieses Jahres haben Sie eine breit abgestützte Wirkungsstudie veröffentlicht, die den ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen des Festivals beziffert. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
Wir generieren für die Region Luzern einen wirtschaftlichen Wertbeitrag von 45 bis 50 Millionen Franken und haben somit rund 250 Arbeitsplätze geschaffen. Der gesellschaftliche Mehrwert zeigt sich unter anderem in einem deutlichen Imagegewinn für Luzern als Musikstadt über eine breite nationale und internationale Medienpräsenz sowie in einer wachsenden kulturellen Teilhabe der jungen Künstlergeneration und des jungen Publikums.
Die Klassik steht heute unter Eliteverdacht; seit der Pandemie sind auch die Besucherzahlen zurückgegangen. Wie soll ein Veranstalter darauf reagieren?
Keinesfalls mit Panik. Behauptungen wie „Das Publikum ist zu alt und stirbt weg“ sind Klischees. Wenn man genau hinschaut, hat sich das Publikum immer wieder erneuert. Die Frage ist bloß, wie man es anspricht.
Ein wichtiges Format sind bei uns die „40min“, moderierte Veranstaltungen vor dem Hauptprogramm, die exakt von 18.20 bis 19 Uhr dauern. Sie sind gratis, und daran beteiligen sich unsere besten Künstler von Simon Rattle bis Anne-Sophie Mutter. Da geht es locker zu, und die Leute stehen Schlange ums Haus herum – eine bessere Werbung gibt es nicht. Damit gewinnt man natürlich auch eine gewisse Laufkundschaft. Ein anderes Beispiel ist das von Igor Levit kuratierte Klavier-Fest im Mai. In seine unkonventionellen Programme hat er letztes Jahr den Rapper Danger Dan einbezogen, und beim Konzert mit Chilly Gonzales war das Haus voll mit jungen Leuten. Ein sehr überzeugendes Projekt, ohne dass man das jetzt zum Alltag machen muss.
Bei den Orchesterkonzerten dürfte so etwas schwieriger sein. Wie kann man anders mit Beethoven, Brahms und Bruckner umgehen, ohne den Anspruch der Klassik, die ja mehr ist als nur Entertainment, zu verraten?
Man sollte davon wegkommen, die Klassik in alte Hüllen zu stecken. Klassik ist doch sehr lebendig und emotional. Der entscheidende Punkt ist, wie man sie vermittelt, und dazu muss man auch etwas wagen. Es ist wie in der Wissenschaft, das Prinzip Versuch und Irrtum. Auch das Leben ist Versuch und Irrtum, und wenn du keine Irrtum-Erfahrung hast, dann bist du verloren. Das finde ich sehr wichtig, auch für die Arbeit in einer Organisation mit klaren wirtschaftlichen Regeln, die eingehalten werden müssen. Diesen Slalom zu fahren und sich gleichzeitig immer wieder neu zu erfinden, ist enorm schwierig. Es geht also nicht um elitär oder nicht elitär oder um Besucherzahlen im Vergleich zu Pop. Es kommt im Gegenteil darauf an, ob man die Herausforderung mit der Klassik sucht und will. Und auch an den Inhalt glaubt.
Wie sieht nun nach sechsundzwanzig Jahren Luzern Ihre Zukunft aus?
Eine Kopie von Luzern werde ich sicher nicht anstreben, aber vielleicht doch in einem vertretbaren Rahmen noch mal etwas Neues aufbauen. Ich habe auch eine starke Affinität zu Asien, wo wir oft mit dem Orchester auf Tournee waren. Aber noch ist vieles offen.