„Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich“, notierte Blaise Pascal beim Gedanken ans Weltall in seinen „Pensées“. Im Ausruf des ruhlosen Gottes- und Weltsuchers könnte man ein Gegenecho zu dem heraushören, worum es in diesem Buch geht. Statt stumme Leblosigkeit und Ferne: die Nähe einer Stimme, die zu uns spricht.
Historisch lange als wichtigster Modus menschlicher Weltwahrnehmung und Gemeinschaftserfahrung anerkannt, hat die Stimme durch die Erfindung von Schrift, Buchdruck und elektronischer Kommunikationstechnologie allmählich ihren Vorrang eingebüßt. Als ein in keiner klaren Begrifflichkeit festzumachendes und wissenschaftlich nur sporadisch angegangenes Phänomen ist die Wirkungskraft der Stimme aber wie eine tiefere Sedimentschicht in der menschlichen Existenz erhalten geblieben. In seinem Buch unternimmt Hans Ulrich Gumbrecht den Versuch, sie philosophisch, psychologisch, soziologisch, kulturgeschichtlich von seinen Rändern her zu umschreiben.
Von den anderen Ausdrucks- und Bedeutungsträgern Schrift und Bild ist die Stimme in den vergangenen Jahrzehnten massiv unter Druck gesetzt und überdies von Philosophen wie Jacques Derrida als Erscheinungsform einer „Präsenz“ systematisch dekonstruiert worden. Anregung für seine Rehabilitierung der Erfahrung stimmlicher Anwesenheit fand Gumbrecht bei Roland Barthes im Aufsatz „Die Rauheit der Stimme“, einem Text, der dank seiner Fokussierung auf die stimmliche Materialität zwischen Sprache und reinem Klang im Kunstlied diesem Buch eine gewisse Orientierung zu geben scheint.
In Parlamenten und bei Gottesdiensten
Gumbrecht spricht vom „Knoten der Stimme“. Verknotet sind in ihr drei sehr unterschiedliche Bereiche: das Medium der Sprache mit ihren zwei Seiten von Signifikant und Signifikat, Symptome der Psyche des jeweils Sprechenden sowie ein rein akustisches Klangereignis. Über sieben wie Einzelessays angelegte Kapitel hinweg soll im Buch das Thema der Stimme in Resonanz versetzt werden. Im Ergebnis klingt das über weite Strecken anregend, mitunter aber auch trocken und hohl.

Die menschliche Stimme schafft in der Interaktion soziale Räume, beispielsweise in Parlamenten oder bei Gottesdiensten. Und sie schafft auch eine große Vielfalt von „existentiellen Räumen“ mit je eigenen Strukturen, Stimmungen, Intonationen. Beim Mitsingen etwa in Fußballstadien entsteht das, was der Autor „mystische Körper“ nennt, ein Phänomen, das von Gilles Deleuze im Zusammenhang seines Konzepts eines „organlosen Körpers“ ausführlich thematisiert worden ist.
Kulturgeschichtlich betrachtet, sind die Zeugnisse, in welchen die Stimme in ihrer Materialität als bestimmtes Timbre, als Klanglage oder Skandierung sich darstellt, sehr heterogen. Gumbrecht durchläuft dieses Spektrum im Eiltempo. Er streift den Sirenengesang in der „Odyssee“, das Singen von Orpheus in der Unterwelt, das Nachplappern der Nymphe Echo, aber auch Josefines seltsam mäusehaften Pfeifsingsang in Kafkas Erzählung „Josefine, die Sängerin, oder Das Volk der Mäuse“. Funktional schlug sich das Interesse an der Stimme bei Quintilian oder Cicero besonders in der Rhetorik als Mittel der Überredungskunst nieder. Das Mittelalter wandte sich eher dem Gedanken der Fleischwerdung des göttlichen Wortes aus dem Johannesevangelium zu.
Fünf Lieblingsstimmen aus der populären Musik
In der Oper ab dem siebzehnten Jahrhundert zur gesanglichen Spitzenleistung verabsolutiert und von den Moralisten La Rochefoucauld oder La Bruyère zum Authentizitätsbeweis beim Ausdruck men-schlicher Gefühle gemacht, hat die Stimme sich manchmal weitgehend von ihrer Funktion als Bedeutungsträger befreit. Gumbrechts Beispielsortiment reicht bis zum Einsatz der Stimme als Mittel faschistischer Massenüberwältigung, die dank Rundfunk das Zeitalter einer „phonozentrischen Form von Politik“ eröffnete.
Bei der Weitläufigkeit eines derart „unordentlichen“ Themas – so angeblich die verständnisvolle Mahnung der Verlagslektorin an den Autor – konnte es kaum anders kommen, als dass man bei der Lektüre manchmal etwas verloren innehält. Fast mehr noch als von der Fülle der angeführten Aspekte wird man von der Ahnung all dessen erschlagen, was eigentlich auch noch dazugehören würde, wie das pathologische oder visionäre Stimmenhören oder das enträumlichte Stimmengewirr unserer medialen Dauerverknotung.
Die zahlreich aus dem Privatleben des Autors eingestreuten Beispiele helfen wenig. Seine im Schlusskapitel genannten fünf Lieblingsstimmen aus der populären Musik – Elvis Presley, Edith Piaf, Janis Joplin, Whitney Houston, Adeles „Someone Like You“ – werden einfühlsam geschildert, lassen den Leser aber ziemlich allein mit jener „Entbergung von Nähe“, die der Autor über eine seltsame terminologische Anleihe bei Heidegger vermitteln will.
Zwischen einem resolut persönlichen Wahrnehmungsbericht und einer essayistisch freien Reflexion über das Überwältigungsvermögen der Stimme hätte vielleicht klarer entschieden werden müssen. Der „transzendente Horizont“, den Stimmen uns nahebringen und der, wie Gumbrecht betont, nicht vergeistigt „über“, sondern sehr materiell „unterhalb der menschlichen Existenz“ liegt, wäre womöglich besser erkennbar geworden. Insofern ist dieses Buch eher ein Wink aus der Ferne als eine uns zugeflüsterte Eingebung.
Hans Ulrich Gumbrecht: „Leben der Stimme“. Ein Versuch über Nähe. Suhrkamp Verlag, Berlin. 2025. 268 S., geb., 30,– €.