Hans-Jürgen Syberberg wird 90: Im Pandämonium der Deutschen

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Als er seinen ersten und zugleich vorletzten Spielfilm drehte, fehlte die Sonne. Im Frühjahr 1968 erhofften sich Hans-Jürgen Syberberg und sein Team in Sardinien hohe Temperaturen. Der Film „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ sollte nämlich nach Tolstoi von einer Wette erzählen, die ein habgieriger deutscher Hotelier mit zwei Sarden abschließt: Sein Gewinn wäre das Land, dessen Grenzen er einem Tag abzuschreiten vermag. Getrieben von dieser Aussicht rennt er los, überfordert sich, bricht am Ausgangspunkt seines Laufs tot zusammen. Die Erde, die er dann noch braucht, hat Grabesumfang.

Auf die sardische Hitze, sagt Syberberg im Gespräch, warteten sie lange vergeblich. Das war „ein Schock fürs Leben“ und hat dazu beigetragen, dass er danach nur noch im Studio produzierte, ganz ohne oder mit nur wenigen Außenszenen. Puppenspiele, Diaprojektionen, Bühnenauftritte und Kammerszenen bestimmten seinen Stil. Minimiere den Einfluss dessen, was, wie das Wetter, sich nicht der Regie fügt. Syberberg ist ein Autor, er setzt in seinen Filmen künstliche Welten ins Bild. Dass es zugleich historische Filme sind, bezeichnet ihr Spannungsmoment.

1968 wurde in München an jeder Ecke ein Film gedreht

Schon zuvor hatte er in Innenräumen gefilmt: Bertolt Brecht im Berliner Ensemble in 8 mm, nach der Flucht 1953 aus der DDR die Theaterproben von Fritz Kortner zu „Kabale und Liebe“, dann „Romy – Porträt eines Gesichts“ über Romy Schneider, beides 1965 für das Fernsehen. Er war jung und brauchte das Geld. Das rücksichtslose Redigat, das Schneiders späterer Ex-Ehemann Harry Meyen dem Film antat, lehrte Syberberg zusätzlich, künftig auf ein Höchstmaß an Eigenständigkeit zu achten. Der letzte Graf Pocci, dem sein nächster Film galt, war ein Adliger, der eigensinnig dem Verfall seines Schlosses am Starnberger See und dem Aussterben seiner unabhängigen Lebensform zusah.

1968, sagt Syberberg, wurde in München an jeder Ecke ein Film gedreht. Man wollte kritisch sein, dies und das befreien, das Umdenken eines größeren Publikums bewirken. In Oberhausen war 1962 die alte Aufforderung, ins Kino zu gehen, um sich ein paar schöne Stunden zu machen, zu Grabe getragen worden. Der sogenannte Neue Deutsche Film entstand und wurde in der Schilderung des Lebens als hässliche Falle bei Fassbinder prominent, in den Lehrstücken einer Dialektik ohne Ergebnis bei Alexander Kluge, und in dem, was Werner Herzog gegenüber Syberberg einmal den „akrobatischen Film“ nannte: muskulöse Kraftanstrengungen des Erzählens. Er schätze das, sagt er, aber in dieser Disziplin sei er schwach.

Szene aus Syberbergs „Parsifal“ mit Robert Lloyd (Mitte)Szene aus Syberbergs „Parsifal“ mit Robert Lloyd (Mitte)Picture Alliance

Syberberg bewegte sich in der Gegenrichtung und drehte immer länger werdende Filme über Ludwig II., über Karl May und über Hitler. Für den anderthalbstündigen Monolog Walter Sedlmayrs über den Küchenmeister des Märchenkönigs, „Theodor Hierneis oder Wie man ehem. Hofkoch wird“, erhielt er 1972 den Deutschen Filmpreis in der Kategorie „Bester programmfüllender Film ohne Spielhandlung“. Das war präziser als das ihm oft verliehene Attribut eines Dokumentarfilmers, das irreführende Assoziationen an realistische Recherchen weckt. Die Fabrik, aus der Syberberg berichtete, war sein Kopf. Ihm selbst gefällt der amerikanische Begriff „german epic“.

Auf das erste Epos mit Ludwig II. sei er eher beiläufig gekommen. „Macht ist nichts, aber die Macht der Verführung“, lässt er den „jungfräulichen König“ sagen, der mit sanftem Sarkasmus seine Rolle als Majestät und den Hofstaat kommentiert. In den Pariser Kinos lief der Film dem gleichzeitig erschienenen „Ludwig II.“ von Luchino Visconti beim Publikum den Rang ab. Als Syberberg die französischen Freunde erstaunt fragte: „Ihr wisst schon, dass es um einen Monarchen geht“, hätten die nur gelacht. Das Ganze hatte 300.000 Mark gekostet, dafür wäre Viscontis Ludwig, Helmut Berger, nicht einmal aus dem Hotelbett aufgestanden. Von Valéry Giscard d’Estaing etwas später auf „Ludwig“ angesprochen, bejahte Willy Brandt, er habe Visconti gesehen, woraufhin Hans-Dietrich Genscher, aus dessen Ministerium die Filmförderung kam, ihm zuflüsterte: „Er meint unseren“.

„Nur als Kitschkönig ist Ludwig ungefährlich“

In „Ludwig“ bediente sich Syberberg erstmals der „tableaux vivants“, in denen Personen vor Hintergrundprojektionen auftreten, als sollten durch sie Bilder nachgestellt werden. Von diesen Projektionen (Architekturen, Landschaften, Stadtansichten, Sternenhimmel) berichtet er, immer mehrere zur Hand gehabt zu haben, um am Set ausprobieren zu können, welche sich jeweils am besten eigne. So entstand ein Bilderbogen aus eindrücklichen Szenen, die nicht durch eine Handlungsfolge verknüpft waren, sondern alle gleich nah um das Zentrum des Requiems angeordnet waren. In diesem Zentrum stand Syberbergs Versuch, Ludwig von seinem Ruf als Kitschkönig zu befreien, einem Ruf, der ihn nur verharmlose. „Nur als Kitschkönig ist Ludwig ungefährlich“ sagt in der Mitte des Films der nachfolgende Prinzregent. Dass Hitler wenig später auf der Leinwand Rumba tanzt, deutete an, welcher Kampf um die Figur des Romantikers auf dem bayerischen Thron von Syberberg geführt wurde.

Syberbergs „Karl May“ mit Helmut KäutnerSyberbergs „Karl May“ mit Helmut KäutnerPicture Alliance

Von Karl May gibt es einen Ludwig-Roman „Der Weg zum Glück“, der den Regisseur zum nächsten Film über die seltsamen Wege deutscher Einbildungskraft und ihren Versuch führte, das Leben aus Phantasmagorien zu bestreiten. „Karl May“ von 1974 zeigt den Schriftsteller im ständigen Streit um seinen Ruf und seine Biografie, die von Schwindeleien durchzogen war.

Syberberg interessierte sich auch hier für die Wirkung von Existenzen, die der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt waren. Dem Vorwurf, nie an den Orten gewesen zu sein, von denen er in seinen Abenteuergeschichten buchstäblich autofiktional berichtete, begegnete May schon zu Lebzeiten. „Er war eben gegen Schiller“, erklärt sich Syberberg die Abneigung der Gymnasiallehrer gegen den angeblichen „Schundautor“. Heute sind die Vorwürfe andere, aber darüber, dass mäßig belesene Historiker den Autor Karl May, den sie nicht kennen, als Vertreter des Kolonialismus betrachten, kann Syberberg nur lachen. Karl May sei ein erklärter Gegner der wilhelminischen Eroberungspolitik gewesen, seine einheimischen Helden stehen in ihren Bündnissen mit manchen Indigenen Nordamerikas, Afrikas oder des Nahen Ostens oft allein.

Dass Hitler den Ludwig-Roman kannte und in Wien 1912 einen Vortrag Mays „Empor ins Reich der Edelmenschen“ gehört haben soll – die Historiker sind sich darüber uneinig –, schließt die Kette. Doch bevor Syberberg seinen Film über Hitler drehte, folgte das fünfstündige, an fünf Tagen schwarz-weiß aufgenommene Gespräch mit Winifred Wagner über die Geschichte des Hauses Wahnfried zwischen 1914 und 1975. Das Gespräch mit der Schwiegertochter Richard Wagners hatte dessen Urenkel Gottfried mit maliziösen Absichten gegen seine Familie eingefädelt. Sie erfüllten sich, ohne dass Syberberg, der wenige Zwischentitel einfügte, die Selbstenthüllung der Bayreuther Festspiel-Chefin hätte provozieren müssen. Syberberg amüsiert sich, „Winifred und Romy sind bis heute meine nachgefragtesten Filme“.

Die gedankenlose Kälte der Selbstverpanzerung

Winifred, die Britin, die als Waisenkind von einem Freund des Komponisten aufgezogen wurde, redete ohne Reserven von ihrer frühen und nie nachlassenden Faszination durch ihren Duzfreund Adolf Hitler, die sie nie losließ und die sie gegen alles Wissen von seinen bösartigen Taten abdichtete, die sie nicht interessierten. „Eine große Frau. Eine törichte Frau“, schreib Hilde Spiel damals in diesem Feuilleton über den Film, den sie als Glücksfall bezeichnete, weil hier mit großer Geduld und Traurigkeit aufgezeichnet wurde, was zum Weltuntergang beitrug: die gedankenlose Kälte der Selbstverpanzerung.

Schließlich „Hitler – Ein Film aus Deutschland“, Syberbergs einschneidendster Film. Als er, 1977 gedreht, um 1980 erstmals in einigen deutschen Kinos gezeigt wurde, mussten wir unseren Eltern erklären, dass es heute etwas später werden würde. Er dauerte fast sieben Stunden. Das gehörte zum ästhetischen Konzept. Man saß in der Lichtspielhöhle und sah, wie sich der Wahnsinn entfaltete, die Wirklichkeit nach Gesichtspunkten der Großartigkeit einzurichten. Als Slapstick und surreales Kabarett, als hysterisches Theater, expressionistisches Maskenspiel und Alptraum. Erkundet wurden die Grundlagen des Exzesses, dem viele Deutsche sich zwischen 1933 und 1945 hingegeben hatten.

Szene aus Syberbergs „Parsifal“ (1982) mit Karin Krick und Edith CleverSzene aus Syberbergs „Parsifal“ (1982) mit Karin Krick und Edith CleverPicture Alliance

Wir haben Hans Jürgen Syberberg gefragt, was es heißt, filmisch zu denken, denn irgendwann hatte er einmal gesagt, das zu tun. Seine vorsichtige Antwort weist auf die Fähigkeit des Films hin, mittels Bilder, Text und Musik eine komplette ästhetische Wahrnehmung hervorzubringen. Syberberg sagt nicht „Gesamtkunstwerk“, aber der Begriff, der ihn mit Wagner und der das Kino vorwegnehmenden Bayreuther Musikspielhöhle verbindet, liegt nahe.

Sein „Hitler“, sagt er, wollte anders sein als die vielen Filmschnipsel, die wir vom winselnden, hetzenden, theatralisch auftretenden und posierenden „Führer“ kennen. So, wie sein Ludwig sich vom Ölgemälde Viscontis unterscheiden sollte, so setzte sich sein Hitler von den zeitgenössischen Dokumentarfilmen ab. Syberberg nennt „Hitler – eine Karriere“ von Joachim C. Fest, der ebenfalls 1977 herauskam. Mit den Bildern des tatsächlichen Hitler aus der Wochenschau, die selbst schon auf Wirkung kalkuliert waren, könne der Film nicht konkurrieren. Syberberg blieb ein Schüler Brechts, er suggeriert keine Wirklichkeitsnähe.

Ein grotesker Vorwurf

Der Streit um den Film war beträchtlich. Sein Autor wurde der Ästhetisierung des Faschismus angeklagt, was ein grotesker Vorwurf gegen ein Werk war, das eben die ästhetische Verführbarkeit durch Hitler und seinen kollektiv genossenen Größenwahn thematisierte. Saul Friedländer nannte den Film trotz skeptischer Einschätzung, ob auf seiner Grundlage Widerstand gegen Hitler hätte geleistet werden können, ein Meisterwerk des experimentellen Films. Susan Sontag lobte ihn in der „New York Review of Books“ als ein Ereignis der Kunstgeschichte: Kino als Erkenntnisinstrument, um nicht den historischen Tatbestand, sondern unser Verhältnis zu ihm zu untersuchen. Zuweilen wurde als Gegenstand dieser Untersuchung der „Hitler in uns“ bezeichnet. Deshalb sah Syberberg von aller Wirklichkeitsillusion ab und setzte dokumentarisches Material wie Reden und Fotografien nur zu Kontrasteffekten ein, gewissermaßen als Untertitel seiner Bilder, als Mosaikteile des Pandämoniums.

Dass die späteren Freunde des „Untergangs“ und seiner filmischen Hollywood-Trabanten (Tom Cruise als Stauffenberg) sich über Syberberg mit der Behauptung hermachten, er sei ein Kleinbürger, der sich der Ideenlüge von Deutschlands faustischer Seele bediene, enthielt viel unfreiwillige Komik. Das Goethe-Institut, das den Film in der Welt herumschickte, versuchte aus der alptraumhaften Szene, in der Heinrich Himmler seine grauenhafte Posener Rede unterlegt mit Wagners Musik vorträgt, diese herauszuschneiden. „Ich habe natürlich getobt und durchgesetzt, dass es rückgängig gemacht wurde“, aber interessant war es für Syberberg, dass genau an dieser Stelle der Skandal empfunden wurde. Als er 1982 „Parsifal“ als europäischen Epochentraum verfilmte, der auch „Kundry“ hätte heißen können, so sehr war die von Edith Clever gespielte Zauberin seine Mitte, erschien das wie ein Versuch, Wagner von Hitler, der sich selbst irrsinnigerweise als Parsifal vorkam, zu lösen.

Ein bitterer Stoff am Rand der Geschichte

Hans-Jürgen Syberberg wird an diesem Montag neunzig. Er lebt inzwischen in München und Nossendorf, wo er nahe Stralsund 1935 geboren wurde. Schwedisch-Pommern, sagt er, werde die Region in Frankreich noch heute genannt. An seine Herkunft hat er erneut ein Projekt geknüpft, das überraschend von seinen filmischen Gewohnheiten abweicht. Galten seine Filme bis dahin Personen von großer Bekanntheit und mythologischer Ausstrahlung, so hat er sich jetzt einem bitteren Stoff am Rande der Geschichte zugewendet, dem Massensuizid von Demmin.

In der einst stolzen Hansestadt nahe Nossendorf hatten sich Anfang Mai 1945 aus Angst vor marodierenden sowjetischen Soldaten mehr als eintausend Einwohner, vor allem Frauen, selbst getötet. Eine grausame Kalendergeschichte. Den Dokumentarfilm, den er nun doch einmal und außerhalb eines Studios gedreht hat, „Demminer Gesänge“, versteht sich als Requiem auf diese Toten, mit Mozart und Brahms, dem lateinischen und dem Deutschen Requiem als Musik. Mit der Handkamera als Collage aus Vergangenem und Gegenwärtigem produziert, ist er auf die Demminer Gegenwart gerichtet, in der Rechtsextreme und Linke einander den Bezug auf die Geschichte bestreiten. Syberberg versteht ihn als eine kommunale Intervention, gerichtet gegen die Verwüstungen, die von der Stadt und ihrer Marktmitte seit 1945 erlitten worden sind. Dass das vierzigminütige Vorlesen aller bekannter Namen der Opfer in einer synchronen Filmaufführung in Demmin und Moskau gezeigt wurde, tröstet ihn ein wenig über das ausbleibende Interesse der Lokalpolitik in Vorpommern hinweg.

Film, sagt Syberberg, ist nicht Verfolgungsjagd mit Autos, nicht Schießerei und nicht das Zeigen „psychologischer Aktivitäten“, sondern das Ineinanderfließen von Bildern, Sprache und Musik. Die fünf „Monologe“, die er von 1985 an mit Edith Clever aufführte und filmte, Monologe aus Kleist, Joyce, Schnitzler und anderen, waren eine weiter Variante dieses Versuchs, mit einfachsten Mitteln inständige Konzentration zu bewirken. Nicht viele können von sich sagen, in ihrer Kunst eine eigene ästhetische Möglichkeit gefunden und entwickelt zu haben, eine Gattung nachgerade. Über alle Kontroversen hinweg, die sich an ihm und seinen die Filme begleitenden Kommentaren entzündeten, ist das Hans-Jürgen Syberberg gelungen. Wir haben es bei ihm nicht mit vielen Filmen und Debatten zu tun, sondern mit einem Werk.

Die „Demminer Gesänge“ werden am Dienstag, 9. Dezember von 17 Uhr 30 an im Filmmuseum Frankfurt in Anwesenheit Hans-Jürgen Syberbergs gezeigt.

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