Grüne Strafanzeige gegen Merz: Ohne Maß und Mitte

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Einen „klaren Anfangsverdacht auf Volksverhetzung“ sehen die Kreuzberger Grünen bei der Äußerung von Friedrich Merz (CDU) zum „Stadtbild“. Sie haben daher Strafanzeige gegen den Bundeskanzler gestellt, ein Ermittlungsverfahren beantragt. Begründung: Merz habe die „Grenzen des Sagbaren weiter verschoben und Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe oder sichtbarem Migrationshintergrund öffentlich herabgewürdigt“.

Das Strafgesetzbuch, Paragraf 130, sieht für Volksverhetzung Freiheitsstrafen von drei Monaten bis fünf Jahren vor. Die Kreuzberger Grünen beziehen sich explizit auf diesen Paragrafen. Wollen sie allen Ernstes den Kanzler hinter Gittern sehen?

Alles nur „Einzelstimmen“, nur Kreuzberg? Von wegen. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge war vor einer Woche mit Gleichgesinnten sogar vor die CDU-Zentrale gezogen, um gegen Merz zu demonstrieren. Ihr Stellvertreter Andreas Audretsch distanziert sich nicht von der Volksverhetzungs-Anzeige. Er tönt stattdessen, Merz habe das Leben eines großen Teils der Berliner Bevölkerung „noch unsicherer gemacht“. Die Parteispitze wollte sich am Dienstag zu der Strafanzeige gegen Merz nicht äußern, „aus Kapazitätsgründen“.

Berlin-Kreuzberg gegen Baden-Württemberg

Bei Cem Özdemir klingt es ganz anders. „Unerträgliche Zustände“ herrschten in den Innenstädten, sagte er kürzlich, angesprochen auf die „Stadtbild“-Debatte. Insbesondere Frauen hätten abends Angst an Bahnhöfe zu gehen, damit müsse man sich jetzt beschäftigen. „Wenn wir es nicht machen, dann ist es quasi ein Aufruf, AfD zu wählen“, sagte der Spitzenkandidat der Grünen für die Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Nebenbei kritisierte er Merz für eine pauschale Wortwahl und erinnerte an dessen Rolle.

Berlin-Kreuzberg versus Baden-Württemberg – da zeigt sich wieder die extreme Spreizung der Grünen. Hier verbaler Radikalismus, dort pragmatischer Realismus. Hier Empörungs-Theater für die eigenen Reihen; dort der Versuch, möglichst breite Wählerschichten anzusprechen. Hier die oppositionellen Berliner Grünen, die jüngst sogar ihr Kreuzberger Direktmandat verloren haben; dort ein Landesverband, der seit 2011 den ersten und einzigen grünen Ministerpräsidenten stellt – und das weiter tun will.

Das Schlimme daran ist: Es handelt sich um ein Muster, in das die Grünen immer wieder verfallen. So war es etwa im Mai, nachdem sich die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, mit einem Anti-Polizei-Pullover gezeigt hatte. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann forderte Nietzard zum Partei-Austritt auf. Özdemir wies darauf hin, die Polizei verteidige grüne Wertvorstellungen. In diesem Stil streiten die Grünen über Migration, Polizei, Klimaschutz und das Verbrenner-Aus.

Die erfolgreichste Partei Deutschlands

Der linke Grünen-Flügel muss sich fragen lassen, ob er das politische Klima nicht noch unversöhnlicher macht. Wer so agiert, nur bedacht um Empörungs-PR, muss sich fragen lassen, ob er eine weitere Spaltung billigend in Kauf nimmt. Überhaupt scheint Empörung das Gebot der Stunde, jede und jeder darf sich in einem der reichsten Länder der Welt als „Opfer“ beschreiben.

Die Grünen sind seit der Jahrtausendwende die erfolgreichste Partei Deutschlands – und zwar unabhängig davon, ob sie jeweils regiert haben oder nicht. In der Umwelt-, Energie-, Gesellschafts- und Migrationspolitik haben sie CDU und SPD geprägt, ja, vor sich hergetrieben. Man denke nur an Atomausstieg, Ehe für alle und den Umgang mit der Flüchtlingskrise 2015/16. Angela Merkel war in Teilen eine grüne Kanzlerin.

Maß und Mitte hat Altkanzlerin Merkel jüngst angemahnt. Abgesehen davon, dass man sich von ihr ein selbstkritisches Wort zu den Versäumnissen ihrer eigenen Flüchtlingspolitik wünscht, bleibt Maß und Mitte natürlich richtig. Merkel zielte vielleicht auf Merz.

Ob der Kanzler bei seiner „Stadtbild“-Äußerung wirklich Maß und Mitte verloren hat, darüber kann man streiten. Nicht aber darüber, ob die Kreuzberger Grünen jedes Maß verloren haben und die Bundes-Grünen dabei sind, die Mitte zu verlieren. Es wäre schade um eine Partei, die etwa in der Außenpolitik früh die Zeichen der Zeit erkannt hat; eine Partei, der Deutschland viel zu verdanken hat.

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