An das neue deutsche Personal muss sich die Welt noch gewöhnen. Als die deutsche Delegation in Paris-Orly aus dem Flugzeug steigt, gerät manches durcheinander. Während alle auf den neuen Kanzler Friedrich Merz blicken, geht dessen mitreisender Außenminister Johann Wadephul schon mal voraus. Ein französischer Sicherheitsbeamter ruft ihm hinterher: „Not on the red carpet, not on the red carpet!“ Nicht auf dem roten Teppich! Ein Reporter klärt den Beamten auf, dass der voranschreitende Herr ein deutsches Kabinettsmitglied sei. Der Franzose wundert sich, dass der Minister vor dem Regierungschef geht, statt hinterherzulaufen. „Das sind Anfänger“, sagt der Reporter. „Es ist ihr erster Tag.“
Immerhin: Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron weiß, wer Friedrich Merz ist, beide Männer haben sich schon öfter getroffen. Macron steht am oberen Ende der Treppenstufen am Eingang des Élysée-Palasts, als Merz’ Limousine vorfährt. „Geht er jetzt die Stufen runter?“, fragen sich gespannt die französischen Beobachter; sie wissen, dass es von Wertschätzung zeugt, wenn das Staatsoberhaupt die Treppe herabsteigt. Und natürlich empfängt Macron Merz unten beim Auto, mit Umarmung, Schulterklopfen und mutmaßlich vielen warmen Worten.
Als sie bald darauf unter einem üppigen Kronleuchter vor die Presse treten, nennt der Präsident einige der Schlagworte, die seine Entourage seit Tagen mantrahaft wiederholt, um die neue Zeit mit Merz zu beschreiben. Sie beginnen mit dem Präfix re-: renouveau, also Wiederaufbruch; resynchronisation, Neuabstimmung; reset. Als wäre die Zeit mit Olaf Scholz eine Klammer gewesen. Nun soll eine neue Zeit beginnen, eine rundum harmonischere. Er wolle den deutsch-französischen „Reflex“ wiederbeleben, sagt Macron. Dafür wolle man sich nun auch regelmäßig in einem gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrat in puncto strategischer Fragen koordinieren.
Der Antrittsbesuch sollte wie ein Arbeitstreffen wirken
„Merci, Monsieur le Président, cher Emmanuel“ – Merz beginnt auf Französisch. Er spricht von seiner „tiefen persönlichen Verbundenheit“ zum Präsidenten. Auch er beschwört einen deutsch-französischen, gar einen europäischen Neustart, besonders bei Sicherheit und Verteidigung, aber auch bei der Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Bereits im Flugzeug hat sich Merz von seinem Vorgänger Scholz abgegrenzt. Er wolle „ein bisschen auch einen Neustart“ mit Macron, sagte Merz. Es seien ja in den vergangenen Jahren aus Paris Klagen gekommen, wonach sich die Bundesregierung etwas zu wenig um das Verhältnis zu Frankreich gekümmert habe. Tatsächlich waren die Klagen viel deutlicher, kruder. Neben den persönlichen Differenzen zwischen Macron und Scholz gab es auch etliche politische.
Bei der Medienkonferenz unter dem Kronleuchter gibt es dann auch gleich eine Frage zu einem der großen Reizthemen, und zwar nach dem Freihandelsabkommen mit den Staaten des Mercosur in Südamerika: Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und Bolivien. „Sie kennen meine persönliche Meinung“, sagt Merz, das Abkommen solle so schnell wie möglich in Kraft gesetzt werden. Er sei sich darin mit Macron einig, sagt er, er wisse aber auch, dass es in Paris noch Bedenken gebe.
Macron nuanciert postwendend: Man müsse bei diesen Fragen die eigenen Interessen im Blick haben, sagt er. Abkommen wie diese müssten die europäischen Produzenten schützen – in diesem Fall meint Macron die französischen Landwirte. Man werde eine gute Lösung finden, fügt der Präsident noch an, doch sehr überzeugt hört er sich dabei nicht an. Schnell wird deutlich, dass auch zwischen diesen beiden Männern die Freundschaft dort aufhört, wo die jeweils nationalen Interessen beginnen.
Auf die Frage zu einem möglichen atomaren Schutzschild Frankreichs auch für Deutschland sagt Merz, die USA gewährleisteten diesen Schutz momentan. Frankreich könne den Schirm allerdings ergänzen, und darum sollten Berlin und Paris reden – voraussichtlich in einem Format, an dem Merz, Macron sowie die Außen- und Verteidigungsminister beider Länder teilnehmen. Auch Macron betont, er wolle die Nato nicht ersetzen, es gehe ihm um die Stärkung der europäischen Pfeiler. Der Geist sei es, mehr Verantwortung zu übernehmen, nicht die bestehenden Strukturen abzuschaffen.
Dann kommt die Frage auf, ob Deutschland den Marschflugkörper Taurus an die Ukraine liefern solle. Macron sagt, es sei wichtig, die Ukraine zu stärken. Aber man solle so wenig wie möglich darüber reden. „Diese Ambiguität ist gut“, sagt der Präsident. Man wolle Russland nicht zu viel preisgeben. Diese Maxime lässt sich durchaus als freundlicher Rat an das Nachbarland verstehen: Deutschland hat mehr als jedes andere Land öffentlich über Waffenlieferungen an die Ukraine debattiert.
Es gibt also durchaus Bedarf an Neuabstimmung, an resynchronisation. In Paris haben sie aber viel Lust auf eine neue Geschichte, zumal in den Palästen der Macht. Seit Wochen souffliert das Élysée den französischen und internationalen Medien, Macron könne persönlich ganz wunderbar mit Merz. Sie würden dieselbe Sprache sprechen, sie hätten ähnliche politische Reflexe, auch einen ähnlichen Werdegang, mit Exkursen in die Privatwirtschaft. Bei den jüngsten zwei Diners hätten sie sehr lang zusammengesessen, viel länger als vorgesehen. Über alles, auch über die schwierigen Themen, sollen sie dabei gesprochen haben.
Im Flugzeug legt Merz das Jackett ab, die Krawatte aber bleibt dran
Merz’ Antrittsbesuch in Paris, eine protokollarische Tradition für einen neuen deutschen Kanzler, sollte deshalb auch unbedingt wie ein Arbeitstreffen wirken, ohne Floskeln und mit wenig Pathos. Die Welt sollte sehen, dass da eine neue Dynamik die Beziehungen zwischen den beiden Ländern belebt. Lange erwartet und ersehnt, nach fast vier Jahren des „trägen“ Duos aus Macron und Scholz, wie Le Parisien es nennt, die größte Zeitung im Land.
Aber ob die Beschwörung einer neuen Zeit schon ausreicht? Die linke Libération titelt zur wehenreichen Kanzlerwahl und der Aussicht auf eine bewegte Kanzlerschaft: „Friedrich Merz, eine sehr zerbrechliche Hoffnung der Europäer“. Unter politischem Druck steht aber auch Macron. Der Franzose hat nur noch knapp zwei Jahre in seiner zweiten und letzten Amtszeit. Seit dem Verlust der Parlamentsmehrheit ist er innenpolitisch nahezu machtlos. Es bleiben ihm nur die Außen- und Verteidigungspolitik, die große internationale Bühne, die er nun öfter mit „Monsieur le Chancelier“ teilen will.
Beide Männer sind nach der Pressekonferenz noch für einen gemeinsamen Spaziergang und ein Mittagessen unter vier Augen verabredet. Anschließend fliegt Merz gleich weiter nach Warschau, wo er den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk treffen will.
Die verstolperte, weil erst im zweiten Wahlgang erfolgreiche Kanzlerwahl vom Vortag ist bei alledem fast schon wieder vergessen. Im Flugzeug tritt Merz mit Krawatte, aber ohne Jackett vor die Journalisten, also halb lässig, während sein Vorgänger Scholz in der Regierungsmaschine auf sehr lässig setzte – manchmal schlicht in Pullover und Jeans. Dem etwas mehr aufs Förmliche bedachten Merz ist anzumerken, dass ihn der Fehlstart nachdenklich zurückgelassen hat. Denn obwohl ihn nun schon das Alltagsgeschäft vereinnahmt, so bleibt doch die Frage, was das unzuverlässige Stimmverhalten der Abgeordneten von Union und SPD im Bundestag für die künftige Regierungsarbeit bedeutet. Merz, die zerbrechliche Hoffnung.