
Frank Mill im DFB-Trikot: Weltmeister, Olympiabronze, Bundesligalegende
Foto:IMAGO sportfotodienst
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Die Geschichte des Fußballs ist ein Panorama ikonischer Momente – untrennbar verbunden mit einem Namen, einer Geste, einer Millisekunde, die alles verändert. Das »Wembley-Tor« von Geoff Hurst 1966. Zinédine Zidane, der im WM-Finale 2006 seinem Gegenspieler Marco Materazzi einen Kopfstoß verpasste und so seinen eigenen Abgang inszenierte. Oder Antonín Panenka, der mit seinem nonchalant gelupften Elfmeter im EM-Finale 1976 ein Synonym für kühnen Wagemut schuf.
Solche Episoden wirken nach, begleiten Karrieren als Glanzpunkt oder Makel, als Triumph oder Ballast.
Frank Mill, im Alter von 67 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben, wusste das besser als die meisten. Falls es irgendwo einen Ort nach dem Abpfiff geben sollte, dürfte er auch dort immer wieder nach »seiner« Szene gefragt werden: »Jede Oma kennt sie«, konstatierte er trocken. Kaum ein Interview, das nicht mit dem Ritual begann: »Herr Mill, sollen wir es gleich hinter uns bringen?«
Der 9. August 1986, Olympiastadion München: Borussia Dortmund gastiert beim FC Bayern, die Hausherren führen 1:0. Damals spricht niemand von einem Klassiker, der BVB hatte die Saison davor als Sechzehnter abgeschlossen. Mill, frisch aus Mönchengladbach nach Dortmund gewechselt, läuft allein auf das leere Tor zu – Bayerns Torwart Pfaff ist bereits umkurvt, kein Verteidiger in Sicht, die große Chance zum Ausgleich, eigentlich sogar das sichere 1:1.

Mill beim BVB: »Mit allen Abwässern gewaschen«
Und dann, so gibt Mill später zu, beginnt das große Nachdenken. Die Zeit dehnt sich, der Moment friert ein. Aus zwei Metern trifft er den rechten Pfosten, das Tor bleibt leer. Auf den Videoaufnahmen raufen nicht nur die Dortmunder die Hände über dem Kopf zusammen – selbst die Münchner können es nicht fassen.
Im Interview danach spricht Mill von einer »zehntausendprozentigen Chance«.
Doch in der Stimme klingt keinerlei Gram, kein Frust, keine Scham – vielmehr lacht Mill über sich selbst und darüber, »dass ich das einfach zu genau machen wollte«. Das Spiel endet 2:2, es ist der Auftakt einer unerwartet guten BVB-Saison, die Schwarz-Gelben landen – auch dank Mill – auf dem vierten Platz.
Die Szene nahm ihm niemand wirklich übel, denn das Geschehen war zu grotesk. Und der Stürmer war bereits eine feste Größe in der Bundesliga. Er war zuvor in Gladbach unter Jupp Heynckes zum Bundesligastar gereift. Manch einer witzelte hinterher eher, Mill habe wohl Mitleid mit den Bayern gehabt: Das leere Tor, der Torwart am Boden – da schießt man eben nicht einfach ins Glück.
So machte er sich selbst zur Witzfigur, lachte am lautesten über das eigene Missgeschick. Er sagte: »Ich wollte auch mal was Lustiges machen.«
Seine Karriere war viel größer als der Pannenschuss
Mill spielte diese Rolle noch Jahre später, erzählte von lustigen Begegnungen, wenn er auf die Szene angesprochen wurde. Er hätte natürlich auch einfach abwinken und auf seine Erfolge verweisen können. Denn Mill war schließlich keine Witzfigur der Bundesligageschichte.
In Wahrheit absolvierte Mill 386 Bundesligaspiele, die Mehrzahl davon für Borussia Dortmund. Beim DFB-Pokalfinale 1989 gegen Bremen führte er den BVB als überragender Spieler mit zwei Vorlagen und einem Tor zum Triumph. 1988 gewann er mit den deutschen Fußballern bei den Olympischen Spielen in Seoul Bronze, Mill war Kapitän der Auswahl.
1990 wurde er mit der Nationalelf Weltmeister – auch wenn er bei der Endrunde in Italien keine Minute auf dem Rasen stand, galt er im Team als Stimmungsbolzen, als Garant für die berühmte Wagenburg-Mentalität. Einer, der zusammenschweißte, statt sich über fehlende Einsatzzeit zu beklagen. Einer, der sich selbst nicht zu wichtig nahm.
Einer für das Team eben. Mill sagte trotzdem einmal: »Eigentlich bin ich kein Weltmeister.«

Deutsche Fußballer feiern den WM-Sieg 1990
Foto: Frank Kleefeldt / dpaFrank Mill, in Essen geboren, eine der größten Legenden von Rot-Weiss Essen und mit einem fast schelmischen Ruhrgebietsdeutsch gesegnet, verkörperte den Typ Fußballer, den es heute kaum noch gibt: unverstellt, unverbogen, unangepasst. Dortmunds Vereinsikone Norbert Dickel, im Pokalfinale 1989 Abnehmer der beiden Mill-Vorlagen und seit Jahren Stadionsprecher beim BVB, adelte ihn einmal als »mit allen Abwässern gewaschen« – eine Ehrung, wie sie im Revier nur den Eigenwilligsten zuteilwird.
Mill selbst bezeichnete sich einst augenzwinkernd als »großes Miststück«, dem nach Abpfiff trotzdem jeder die Hand gegeben habe.
Er habe jeden Gegner während eines Spiels »zugetextet«, er beherrschte den berühmt-berüchtigten Dirty Talk, als der Begriff noch gar nicht erfunden war. Mill war zudem berüchtigt für seine Kunst, Elfmeter herauszuholen. »Was ich in meiner Laufbahn herausgeschunden habe, das war schon meisterlich«, bekannte er mal freimütig. »Die Hälfte der von mir herausgeholten Elfer würde dem heutigen Videobeweis nicht standhalten.«
Ein Glück für ihn, dass der VAR erst zur Saison 2017/2018 eingeführt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mill schon lange nichts mehr mit dem Profifußball zu tun. 1996 hatte er seine Karriere in Düsseldorf beendet. Im Anschluss blieb er noch für ein Jahr Manager bei der Fortuna, der Klub stieg in die zweite Liga ab und Mill musste gehen.

Mill als Fortuna-Manager im Jahr 1997
Foto: IMAGO sportfotodienstMill fühlte sich ungerecht behandelt und betrat nach eigenen Angaben für die nächsten drei Jahre kein Fußballstadion mehr. Stattdessen baute er ein Fußballcamp für Jugendliche auf. Auf der Website kann man heute lesen, was bei diesen Fußballcamps im Vordergrund stehen soll: »Spaß.«
Vielleicht ist das die Quintessenz: Mill, der Fußballer wie der Mensch, wollte vor allem eines – Freude an seinem Tun. Der legendäre Pfostenschuss von 1986 hat das Bild des Fußballmenschen Mill abgerundet.
Auch der Umgang damit rundete das Bild ab. Missgeschicke wie sein Pfostenschuss können passieren. Danach hat man aber selbst die Wahl, wie man damit umgeht: erzeugt man einen peinlichen Moment, oder eine Einladung, gemeinsam darüber zu lachen. Mill entschied sich für die zweite Option – vermutlich aus einem Instinkt heraus.
Über sich selbst lachen zu können, ist eine Gabe, die nicht jedem gegeben ist – auch oder vor allem nicht im schnellen, gnadenlosen Zirkus Profifußball. Frank Mill war viel, aber dieses Talent machte ihn einzigartig.