Folksänger Nick Drake: Auf Gold gestoßen

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Im November 1979 sucht Gorm Henrik Rasmussen im Telefonbuch die Nummer der Familie Drake in Tanworth-in-Arden heraus und greift zum Hörer. Er sei ein Dichter und habe ein paar Fragen zu Nick, erfahren die erstaunten Eltern. Ihr Sohn war seit fünf Jahren tot. Rasmussen macht sich auf den Weg in die englischen Midlands, an den Ort von Kindheit und Tod des mythisch verehrten Musikers. Der Däne zählt zu den ersten Pilgern, weitere werden folgen. Die gerührten Eltern verschenken mitunter Kopien von Tonbändern, auf denen ihr Sohn Songentwürfe festgehalten hat. Sie finden ihren Weg auf Bootlegs und ergänzen das schmale Werk von 31 auf drei Alben veröffentlichten Songs. Jedes weitere Tonfragment wird von Sammlern gehütet, als handele es sich um klingenden Goldstaub.

Wiederholt sind Probeaufnahmen von Drake aus dem Bergwerk des Nachlasses zutage gefördert und offiziell veröffentlicht worden: auf der „Fruit Tree“-LP-Box von 1979 und auf Zusammenstellungen wie „Time Of No Reply“, „Made to Love Magic“ und „Family Tree“. 2014 erschienen die BBC-Einspielungen auf Vinyl in der Numbered Boxed Signature Edition des Prachtbandes „Remembered For A While“. Das Gitarrenstück „Plaisir d’amour“ hängte man als Hidden Track der Super-Audio-Edition „A Treasury“ an.

In Gedanken bei Mary Jane

Dennoch stellt die nun erschienene Box „The Making Of Five Leaves Left“ eine Sensation dar. Sie wartet mit 32 unveröffentlichten Einspielungen auf, ergänzt um das Originalalbum von 1969 in der remasterten Fassung aus dem Jahr 2000. Neun Jahre hat der Nachlassverwalter Cally Callomon nach Aufnahmen suchen lassen und in Absprache mit Drakes Schwester Gabrielle Songs ausgewählt. Ein ausführliches Booklet gibt Auskunft über sämtliche Funde.

DSGVO Platzhalter

Eine Goldader, auf die man gestoßen ist, führt zu einem Tonband aus dem Besitz von Paul de Rivaz, der Drakes Musik im Mai 1968 auf seiner Studentenbude in Cambridge mit einem Grundig-Tonbandgerät festgehalten hat. Drake erläutert darauf dem Musikstudenten Robert Kirby, während er Songs wie „Day Is Done“ oder „The Thoughts Of Mary Jane“ spielt, welche Arrangements er sich wünscht. Der Entwurf eines Gitarrenstücks und zwei unbekannte Songs sind darunter. „Mickey’s Tune“ lässt den ansonsten nur untergründig erkennbaren Einfluss des Bossa Nova offenkundig werden.

Reines Gold sind die ersten Aufnahmen im Studio vom März 1968. „Okay, here we go – whatever it is, take one“, hört man den Produzenten Joe Boyd sagen. Daraufhin spielt Drake, was er zu bieten hat, sechs Songs, darunter „Time Has Told Me“, „Fruit Tree“ und „Saturday Sun“. Für Puristen, die das Debüt für überproduziert halten, werden diese Einspielungen die gültigen Fassungen darstellen. Der Klang ist superb, die Songs sind bemerkenswert. Drakes Gesang ist bei größeren Tonsprüngen zuweilen erstaunlich unsicher, etwa auf „Fruit Tree“. Sein Gitarrenspiel dagegen: präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Andere Einspielungen laden zum Urteilen darüber ein, warum sie es auf kein Album geschafft haben. „Blossom“ hielt Drake für etwas zu kitschig.

Mal humorvoll, immer zupackend

Wenn ein Musikproduzent seine Arbeit gut macht, lohnt es kaum, Outtakes zu hören. Sein Urteilsvermögen wird die besten Fassungen auswählen. Doch die nun vorliegenden Einspielungen erlauben es, das Psychogramm von Drake als Künstler besser zu zeichnen. Drake eilt der Ruf voraus, ein einsamer Schweiger gewesen zu sein, ein schüchterner Melancholiker. Nun aber hört man einen entspannten Drake kommentieren, mal humorvoll, immer zupackend. Als Musiker wusste er, was er wollte.

Die ersten Einspielungen lassen auch das Potential erkennen, das Boyd entfalten sollte. Was bei den Proben nach Rohdiamanten klingt, hat auf dem Album seinen letzten Schliff erhalten. Anhand der Versionen von „Day Is Done“ ist das Experiment nachzuvollziehen, das Arrangement zwischen Folk und Barock-Pop changieren zu lassen. Das hinzukommende Cello macht aus „Strange Face“ den „Cello Song“. Das Herantasten an die finalen Fassungen wird nacherlebbar. Unverständlich bleibt, warum von den verschiedenen Frühfassungen des Meisterwerkes „River Man“ lediglich zwei präsentiert werden. Überraschenderweise beginnt Drake den Song zunächst mit einem Gitarren-Intro – es wegzulassen, war die richtige Entscheidung. Auf einer weiteren Fassung, mit der Orchestrierung von Harry Robinson, verlieren die Streicher ab der Mitte den Bezug zu Drakes Gitarrenspiel und Gesang. Erst in der letzten Version wird „River Man“ zu einem perfekten Song. Der Weg zur Vollendung ist mühsam.

Auf Nachfrage schreibt Drakes ehemaliger Tontechniker John Wood, der die Aufnahmen der Box gemastert hat, es lägen für die Alben „Bryter Layter“ und „Pink Moon“ kaum Outtakes vor. Es ist daher unwahrscheinlich, dass es weitere Making-of-Boxen geben wird. Mit dieser einen sind wir aber schon reichlich beschenkt.

Nick Drake: „The Making Of ‚Five Leaves Left’“. 4 LPs/4 CDs. Island Records (Universal)

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