Die politische Achterbahnfahrt ist vorbei, als Ursula von der Leyen an diesem Morgen ans Pult im Plenarsaal des EU-Parlaments tritt. Andere Redner werden später den Ausdruck „endlich“ in wuchtige Rhetorik verkleiden. Der Saal ist dünn besetzt, vor allem ganz rechts und ganz links fehlen viele, die Mitte füllt sich erst langsam. Straßburger Nächte können lang sein, und der wochenlange Prüfprozess für von der Leyens neues Team war ermüdend. Er glich tatsächlich einer Achterbahnfahrt: Viele haben geschrien, manchen wurde schlecht, andere erschienen gelangweilt – und am Ende kamen alle wieder dort an, wo sie losgefahren sind.
Von der Leyen lächelt, rechts von ihr sitzen in Reih und Glied ihre designierten Kommissarinnen und Kommissare, dasselbe Team, das sie im September vorgestellt hatte. Es sind die künftigen Ministerinnen und Minister der EU, die sich aber erst an die Arbeit machen dürfen, wenn die Europaabgeordneten sie per Votum bestätigt haben: erst in den zuständigen Ausschüssen jede und jeden einzeln, und an diesem Mittag das gesamte Kollegium. Also noch einmal werben. Es sind acht Seiten Rede und knapp vierzig Minuten, in denen von der Leyen ihre Vorhaben mit den Herausforderungen für ein von Krieg und wirtschaftlicher Misere bedrohtes Europa verknüpft mit kurzen Porträts ihrer 26 Kommissionsmitglieder.
370 der 720 Abgeordneten stimmten für die Kommission
„In den vergangenen Wochen haben Sie jedes Mitglied dieses Kollegiums genau unter die Lupe genommen“, sagt von der Leyen. „Ich weiß, dass dies nicht einfach war.“ Aber „Spaltungen zu überwinden und Kompromisse zu schmieden“, das sei Markenzeichen jeder lebendigen Demokratie. In diesem Geist wolle sie mit den Abgeordneten zusammenarbeiten.
Sie muss ja auch mit genau diesen Abgeordneten kooperieren in den kommenden viereinhalb Jahren, weshalb sie den holprigen Weg bis zu diesem Votum so freundlich wie möglich umschreibt. Am Ende stimmten 370 der 720 Abgeordneten für die Kommission, so knapp war das selten. 282 votierten gegen sie, 26 Parlamentarier enthielten sich. Die neue Kommission soll am 1. Dezember ihre Arbeit aufnehmen.
Das Abstimmungsverhalten war quer durch die Fraktionen gemischt. Die konservative Europäische Volkspartei stimmte mehrheitlich für Team von der Leyen, ebenso eine Mehrheit der Sozialdemokraten und fast alle Liberalen. Diese drei Fraktionen bilden die sogenannte Plattform, die – vergleichbar mit einer unverbindlichen Koalition – jene Mehrheit im Parlament formt, auf die von der Leyen für ihre Politik bauen will, so wie bereits während ihrer ersten Amtszeit.
Die konservative EVP hatte zuletzt wiederholt mit rechtsextremen Kräften geflirtet
Die Geschehnisse der vergangenen Wochen hatten allerdings Verluste zur Folge, die sich am Mittwoch in Enthaltungen und Gegenstimmen ausdrückten. Zwischenzeitlich hatten sich die Plattform-Fraktionen so zerstritten, dass sich der ganze Prozess zu verzögern drohte. Es erschien auf einmal unsicher, ob die EU von Dezember eine handlungsfähige Exekutive haben kann.
Infolge dieser Kämpfe stellten sich am vergangenen Mittwoch etwa die konservativen spanischen Abgeordneten des Partido Popular gegen die Kommission, aus Protest gegen die Berufung der bisherigen spanischen Umweltministerin Teresa Ribera zur Stellvertreterin von der Leyens. Die Grünen-Fraktion war gespalten, nur 27 von 53 Abgeordneten stimmten für die Kommission – darunter fast alle deutschen.
Die SPD-Parlamentarier hatten sich entschieden, die Kommission nicht zu unterstützen. Sie enthielten sich bis auf zwei Gegenstimmen. Erstens störten sie sich daran, dass mit Raffaele Fitto aus Italien ein Vertreter der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia zum Vizepräsidenten ernannt wird.
Zweitens haben die Christdemokraten aus ihrer Sicht durch den Flirt mit rechtsextremen Kräften eine Grenze überschritten. Die von CSU-Vize Manfred Weber angeführte EVP-Fraktion hatte zuletzt wiederholt Mehrheiten inklusive rechtsextremer Parteien wie der AfD oder der ungarischen Regierungspartei Fidesz gebildet und das unter anderem mit dem Hinweis verteidigt, es gebe trotz gemeinsamer Voten nach wie vor keinerlei Kooperation mit rechts außen.
Eine Liberale legt den Finger in die Wunde
„Vor diesem Hintergrund mussten wir jetzt ein Stoppschild aufstellen“, sagt der Chef der SPD-Delegation im EU-Parlament, René Repasi. Für ein stabiles Europa brauche man eine handlungsfähige Kommission. „Dem wollen wir uns nicht in den Weg stellen“, sagt er. „Aber wir brauchen auch eine stabile Mehrheit in der Mitte, weil brüchige, knappe Mehrheiten mit Rechtsextremen nicht dazu führen, dass wir hier die notwendigen Entscheidungen treffen können.“
Was diese Entscheidungen angeht, legte von der Leyen noch einmal nach. Sie versprach einen „Wettbewerbsfähigkeitskompass“, der im Zentrum ihrer Politik stehen und – um im Bild zu bleiben – drei Nadeln statt nur einer Nadel haben soll: ein innovativeres Europa, die Versöhnung von Klima- und Industriepolitik und eine neue, europäische Sicherheitspolitik mit der Rüstungsindustrie im Fokus. „Unsere Freiheit und Souveränität hängen mehr denn je von unserer Wirtschaftskraft ab“, sagte von der Leyen. Im selben Atemzug kündigte sie offiziell einen vorher schon bekannt gewordenen „strategischen Dialog“ mit der europäischen Autoindustrie an, um der Krise des Sektors zu begegnen.
An von der Leyens Rede schloss sich eine lange Debatte an, in der die Fraktionschefinnen und -chefs wahlweise ihrem Ärger über den Prozess Luft machten, von der Leyen anzählten oder, so wie Manfred Weber und seine sozialistische Kollegin Iratxe García, vor allem das Ergebnis und ihre eigenen Fraktionen lobten. Unter den Plattform-Chefs legte nur die Vorsitzende der liberalen Renew-Fraktion noch einmal den Finger in die Wunde. Valérie Hayer forderte, „in Anbetracht der vergangenen Wochen“ den Anhörungsprozess zu überarbeiten, „von den Nominierungen bis zu den Beurteilungen“ und auch hinsichtlich der Dauer des Verfahrens. Man müsse künftig sicherstellen, dass „nationale Spiele und die Spielchen der Parteigruppen“ nicht mehr die Anhörungen stören.