Es gehört zu den bitteren Wahrheiten des Gesundheitswesens, dass Ärzte ihren Patienten mitunter auch dann Medikamente verabreichen müssen, wenn diese sich dagegen wehren – weil sie psychisch krank sind oder dement und daher nicht selbst ermessen können, was zu ihrem Besten ist. Dass solche ärztlichen Zwangsmaßnahmen als allerletztes Mittel erlaubt sind, war verfassungsrechtlich bereits geklärt. Offen war aber, ob das Krankenhaus wirklich der einzige Ort für solche Behandlungen sein kann, selbst wenn eine Patientin sich mit Händen und Füßen wehrt, weil sie im vertrauten Umfeld der geschlossenen Wohngruppe bleiben will. Nun hat das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, das solche Zwangsbehandlungen ausnahmslos in der Klinik erlaubt.
Die betroffene Patientin aus Nordrhein-Westfalen, über deren Fall der Erste Senat zu entscheiden hatte, leidet an einer paranoiden Schizophrenie, steht unter Betreuung und ist bereits seit 2008 in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht. Eine Dauermedikation mit Neuroleptika lehnt sie ab, weshalb sie – aufgrund gerichtlicher Genehmigung – regelmäßig ins Krankenhaus gebracht werden muss. Notfalls mit Gewalt, wie das Betreuungsgericht festlegte.
Fesseln, Spuckmaske, Retraumatisierungen
Ihr zuständiger Betreuer wollte der Tortur ein Ende setzen und beantragte, die monatlich notwendige Medikation doch bitte in ihrem Wohnverbund vorzunehmen. Denn die Transporte, für die die Frau gefesselt und mit einer Spuckmaske versehen werden musste, führten regelmäßig zu Retraumatisierungen.
Auf den ersten Blick also eigentlich der klare Fall eines zu starren und damit verfehlten Paragrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch, der solche Zwangsbehandlungen einzig im Krankenhaus erlaubt. Allerdings war in der Karlsruher Verhandlung im Juli deutlich geworden, dass hinter der Norm eine durchaus plausible Überlegung steckt.
Der Krankenhauszwang sei eine „Sicherung mit Netz und doppeltem Boden“, so hatte Ruth Schröder, Ministerialdirektorin im Bundesjustizministerium, damals erläutert. Denn damit sollte eine schwer kontrollierbare Ausweitung von Zwangsbehandlungen psychisch Kranker in den Wohneinrichtungen verhindert werden, mit dem Ziel, sie kurzerhand ruhigzustellen. Außerdem wollte man die häusliche Sphäre schützen. „Zu Hause soll der Mensch sicher sein, auch vor der Anwendung vom ärztlichen Zwang.“
Das Bundesverfassungsgericht – zuständig für das Verfahren war dessen Präsident Stephan Harbarth – hat diese Krankenhaus-only-Regelung nun trotzdem geöffnet, allerdings mit aller Vorsicht. Eine Zwangsmedikation in einer Wohneinrichtung dürfe nur dann erlaubt werden, wenn dort praktisch Krankenhausstandard herrsche – wenn also die medizinische Versorgung auch dort gewährleistet sei. Und zweitens muss der Verzicht auf den Transport ins Krankenhaus einen spürbaren Vorteil für die Betroffenen bringen. In der Sprache des Gerichts: Die „erheblichen Beeinträchtigen der körperlichen Unversehrtheit“, die eine Fahrt in die Klinik bedeutete, müssten „vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können“.
Es geht um tiefe Eingriffe in die Grundrechte
Das Karlsruher Urteil wird also für eine wahrscheinlich sehr kleine Zahl von Patienten und Patientinnen eine Verbesserung ihres Alltags bringen. Betroffen seien voraussichtlich vor allem solche Fälle, „in denen ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten zum wiederholten Male durchgeführt werden“, sagte Harbarth. Wo man also bisher in einer murmeltierhaften Wiederhohlungsschleife feststeckte, mit beklemmenden Fesselungsaktionen und wiederkehrenden Unterbrechungen eines ohnehin fragilen Alltags. Bis Ende 2026 muss das Gesetz entsprechend geändert werden.
Bleibt die Frage, warum sich das Bundesverfassungsgericht, das eigentlich für die großen Linien des Grundgesetzes zuständig ist, in diese eher kleinteilige Materie einmischt, deren Regelung man eher in den einschlägigen Fachgesetzen erwarten würde. Drei der acht Mitglieder des Ersten Senats hätten es in der Tat vorgezogen, wenn das Gericht hier dem Gesetzgeber den Vortritt gelassen hätte. Die Monopolisierung der medizinischen Zwangsbehandlung im Krankenhaus sei ein Schutzmechanismus zugunsten der Patienten, heißt es in dem von Heinrich Amadeus Wolff formulierten Sondervotum. Ob man diesen Schutzstandard absenken müsse, habe ausschließlich der Gesetzgeber zu entscheiden.
Die Mehrheit des Senats hält indes eine verfassungsrechtliche Feinsteuerung für angezeigt, weil die existenzielle Abhängigkeit der Betroffenen in den psychiatrischen Einrichtungen tief in ihre Grundrechte eingreift – in ihr Selbstbestimmungsrecht ebenso wie in ihre körperliche Integrität. Gemeint ist damit: Für einen normalen Patienten mag es nebensächlich sein, ob ihm Medikamente an diesem oder jenem Ort verabreicht werden. Für einen Menschen, dessen Wohnumfeld seine gesamte vertraute Welt darstellt, die ihm noch geblieben ist, kann so ein Krankenhaustransport die Fundamente seines Daseins bedrohen. Heißt: Grundrechte zu haben, ist an solchen Rändern der Gesellschaft von existenzieller Bedeutung.