Wie konnte Peter Ronnefeld einfach von der Bildfläche verschwinden? Eine musikalische Früh- und Höchstbegabung als Pianist, Komponist und Dirigent, 1935 in Dresden geboren, nach seinem Studium bei Boris Blacher in Berlin und Olivier Messiaen in Paris mit zwanzig Jahren Dozent am Mozarteum in Salzburg, mit dreiundzwanzig Assistent von Herbert von Karajan in Wien und dort gleichzeitig Cembalist im Concentus musicus von Nikolaus Harnoncourt. Dem fiel bei der ersten Begegnung auf: „Der schaut genauso aus wie Mozart auf dem Bild von Joseph Lange.“
Da ist etwas dran, aber es gibt auch Fotos von Ronnefeld, auf denen er eher an James Dean erinnert. In Christian Reicharts Ronnefeld-Dokumentarfilm von 2014 mit dem schönen Titel „Jeder war mehr in seiner Gegenwart“ schwärmt Harnoncourt: „So was ist mir damals noch nicht und später nicht wieder untergekommen“ und attestiert dem lebenslustigen Alleskönner einen „sechsten Sinn“. 1961, mit sechsundzwanzig Jahren, wird Ronnefeld Chefdirigent der Bonner Bühne und leitet im selben Jahr die Uraufführung seiner surrealen Groteske „Die Ameise“ an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf: ein Skandal.
Was braucht es mehr für den Erfolg einer zeitgenössischen Oper?
Eine der „heftigsten Schlachten“ sei geschlagen worden, die es hier je gegeben habe, berichtet der Kritiker des „Duisburger General-Anzeiger“ und vermerkt dann kopfschüttelnd, niemals sei sie so „ungerechtfertigt“ gewesen, denn: „Die Oper ist kein durchgängiges Zwölftonmusikwerk, das man fürchten müsste.“ Im Gegenteil, sie ist sogar ein pluralistisches Werk, bis hin zu Boogie und Bigband, wie im etwa gleichzeitig entstandenen, vier Jahre nach der „Ameise“ uraufgeführten Antikriegs-Musiktheater „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Nur nicht so ausladend und schwergewichtig.
Ein Extrakompliment an Maske und Schneiderei: „Die Ameise“ Peter Ronnefeld Oper in vier AktenBettina StoessMit der Mischung aus gesprochenen und gesungenen Partien, mit den vielen originellen Instrumentalverbindungen wie etwa Kontrabass mit Kastagnetten, im Wechsel zwischen orchestralem Tumult und kammermusikalischer Auffächerung mit dankbaren Solostellen, in den stilistisch völlig unterschiedlichen Zwischenspielen eröffnet sich dem Publikum ein Maximum an Überraschung und Modernität, fern jeder ideologischen Neue-Musik-Manifestation.
Der Kritiker der Berliner Zeitung „Der Tag“ zählte 1961 weitere Vorzüge des Werks auf: Erstens sei die Kette der Literaturopern durchbrochen worden (die Zimmermann mit seiner Lenz-Vertonung fortsetzte), zweitens „beweisen hier zwei Nachwuchsautoren hochgradigen Theaterinstinkt“, und drittens „sieht sich das Sängerensemble vor menschenmögliche Aufgaben gestellt“. Was braucht es mehr an Voraussetzungen für den Erfolg einer zeitgenössischen Oper, zumal ihre Länge ins heutige Zweistunden-Format passt?
„Ihr hättet zum Theater gehen sollen“
Als Gemeinschaftswerk mit dem Librettisten Richard Bletschacher ist die „Ameise“ formal ein Krimi. Er beginnt mit einer Gerichtsverhandlung wegen Mordes, gleitet dann aber in eine Welt zwischen Traum und Wahn ab, bis man nicht mehr unterscheiden kann, was ist Realität, was Einbildung: eine nicht chronologisch erzählte Story zwischen E.T.A. Hoffmann und Kafka, zudem in den „inner circle“ der Musik verlegt, denn der angeklagte Salvatore ist Gesangslehrer und die Ameise seine Schülerin Formica (italienisch für Ameise), die er umgebracht haben soll. Im Gefängnis fliegt sie ihm als Ameisenkönigin zu und wird zur singenden Sensation ausgebildet.
Als Ronnefeld 1965 Deutschlands jüngster Generalmusikdirektor in Kiel wurde, plante er eine zweite Produktion seiner Oper. Sie fand postum statt – der Mann mit der Blitzkarriere starb am 6. August im Alter von dreißig Jahren an Krebs. Danach wurde das Werk noch zweimal in Österreich aufgeführt, zuletzt 1986 in einer konzertanten Studioproduktion des ORF unter Lothar Zagrosek.
Jetzt hat sich die Bonner Opernbühne in ihrer verdienstvollen Reihe Fokus ’33 zu vergessenen und verschwundenen Werken nach 1933 und 1945 der „Ameise“ angenommen – ein später, durchschlagender Triumph. Da wurde nicht an Nachdenken, Phantasie und Begeisterung gespart. Eine großartige Ensembleleistung aus musikalischer Leitung (Daniel Johannes Mayr), Regie (Kateryna Sokolova), Bühne (Nikolaus Webern), Kostüme (Constanza Meza-Lopehandia) – ein Extrakompliment an Maske und Schneiderei –, Choreographie (Sebastian Eilers), glänzendem Chor und Solisten. Allen voran Nicole Wacker als von einer ehrgeizigen Mutter (Susanne Blattert) zum Gesangsunterricht getriebenen halbwüchsigen Formica, die ihrem Lehrer Salvatore mit stratosphärischem Koloratursopran den Kopf verdreht. Dietrich Henschel spricht, singt, spielt ihn mit somnambuler Verfasstheit, völlig eingesponnen in einen Kokon aus pädagogischem Eros, in dem die Liebe zum Gesang mit der Liebe zur Schülerin zusammenfällt. Als sie ihn verlassen will, verliert er sich selbst, wird wahnsinnig.
Wie stimulierend die beiden Autoren Ronnefeld und Bletschacher ihre eigene Theatererfahrung empfunden haben mögen, zeigt die komische Einlage im dritten Akt, wenn Salvatore im Gefängnis zwei Zellengenossen zugeteilt bekommt, den „Fassadendieb“ und den „Taschenkletterer“. Als Salvatore ihnen ekstatisch seine Liebesgeschichte zu Formica erzählt, amüsieren sie sich zu Tode, was der ernüchterte Pädagoge kurz kommentiert: „Ihr hättet zum Theater gehen sollen.“ Dem kann man sich nur anschließen: Die Produktion am Bonner Opernhaus steht bis Februar auf dem Spielplan. Nix wie hin!

vor 7 Stunden
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