Die wohl größte politische Aufgabe dieser Zeit lässt sich in einer Frage abbilden: Schließen sich Klimaneutralität und Wirtschaftswachstum gegenseitig aus? Deutschland hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt und will bis 2045 klimaneutral werden. Doch in der öffentlichen Debatte wird immer wieder die Frage gestellt, ob das klappen kann – oder ob es dafür nicht eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaft und damit des Wohlstands braucht.
Ein Forscherteam der Technischen Universität Nürnberg um die Wirtschaftsweise Veronika Grimm rechnet in einer neuen Studie vor, dass ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft dem Klima genauso wenig nutze wie eine Deindustrialisierung des Landes.
Gute Wachstumsbedingungen für die Wirtschaft sind daher kein Selbstzweck. Sie sind eine zwingende Voraussetzung dafür, dass wir in Deutschland Klimaschutz weltweit mitgestalten können.
Veronika Grimm, Wirtschaftsweise
Die Studie, erstellt im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, liegt dem Handelsblatt vor. „Gute Wachstumsbedingungen für die Wirtschaft sind daher kein Selbstzweck. Sie sind eine zwingende Voraussetzung dafür, dass wir in Deutschland Klimaschutz weltweit mitgestalten können“, sagte Grimm.
Die deutschen Klimaziele gründen vorrangig auf den „produktionsbasierten“ CO₂-Emissionen. Sie beschränken, wie viel schädliches Kohlendioxid die Industrie aus ihren Fabriken oder die Autos auf den Straßen ausstoßen dürfen. Doch die Studie basiert auf einer anderen Messmethode für Klimaschäden: den „konsumbasierten“ CO₂-Emissionen. Diese bilden das bei der Herstellung ausgestoßene Kohlendioxid für die Produkte ab, die in einem Land konsumiert werden.
Die konsumbasierte Messung gibt nicht nur Aufschluss über den nationalen oder europäischen Fortschritt beim Klimaschutz, sondern zeigt angesichts der weltweiten Wertschöpfungsketten auch die Erfolge globaler Klimabemühungen. Für Deutschland zeigt die Studie: Nachdem die Emissionen nach beiden Messungen lange Zeit gesunken waren, hat sich das in den vergangenen Jahren geändert.
Das ist ein Zeichen, dass Deutschland zwar Fortschritte in Richtung seiner Klimaziele macht, einen Teil aber nur dadurch, dass die CO₂-intensive Produktion von hier konsumierten Gütern ins Ausland verlagert wird.
Veronika Grimm, Wirtschaftsweise
Die produktionsbasierten Emissionen gingen im Vergleich zu 1990 um 36 Prozent zurück, die konsumbasierten Emissionen nur um 30 Prozent. „Das ist ein Zeichen, dass Deutschland zwar Fortschritte in Richtung seiner Klimaziele macht, einen Teil aber nur dadurch, dass die CO₂-intensive Produktion von hier konsumierten Gütern ins Ausland verlagert wird“, erklärt Grimm.
Noch deutlicher ist das Ergebnis in der Schweiz. Hier sind die produktionsbasierten Emissionen im Vergleich zu 1990 um 19 Prozent zurückgegangen, die konsumbasierten Emissionen aber mit einem Plus von 38 Prozent deutlich gestiegen.
Wachstum als zwingende Voraussetzung für Klimaschutz
Die Forscher schließen aus diesen unterschiedlichen Klimaschutzentwicklungen, dass die Klimaziele auch ohne radikale Maßnahmen zu erreichen seien. Vor allem sei die Erzählung populär, Deutschland könne seine Klimaziele nur durch ein Schrumpfen der Wirtschaft und eine damit verbundene Deindustrialisierung erreichen. Es sei zu teuer, die Wirtschaft in ihrer aktuellen Größe auf grüne Technologien umzustellen, argumentieren die „Degrowth“-Befürworter.
Deutschland hat einen vergleichsweise hohen Anteil in Branchen wie Stahl oder Chemie, die viel Energie verbrauchen und die wegen der steigenden CO₂-Preise mit herkömmlicher Energie immer weniger wettbewerbsfähig gegenüber dem EU-Ausland werden. Der Betrieb mit grüner anstatt fossiler Energie ist aber ebenfalls mit hohen Kosten verbunden.
Die Forderung, Deutschland könnte sich diese Kosten sparen und die Unternehmen abwandern lassen, um die Klimaziele zu erreichen, halten die Forscher für zu kurz gegriffen. Denn in anderen Staaten würden diese Unternehmen dann größtenteils weiter fossil produzieren – und Deutschland würde über den Import dieser Produkte seinen konsumbasierten CO₂-Fußabdruck nicht senken können.
Die EU versucht, auf dieses Problem mit dem „Carbon Border Adjustment Mechanism“ (CBAM) zu reagieren. Das ist ein Zoll auf klimaschädlich hergestellte Importe, um den Wettbewerbsnachteil der EU-Produzenten auszugleichen. Das könnte bei einer Verlagerung von Produktionen ins Ausland dafür sorgen, dass dort auf grüne Technologien umgestellt wird, weil der Vorteil der fossilen Produktionsweise wegfiele.
Allerdings weisen die Nürnberger Forscherinnen und Forscher auf die Unvollständigkeit des CBAM hin. Wegen der damit verbundenen hohen Bürokratie würden die Zölle bislang nur in den unteren Wertschöpfungsstufen angewandt. Damit ändere sich am Grundproblem nichts.
Grimm resümiert: „‚Degrowth‘ als Mittel zum Erreichen der Klimaziele kann nicht funktionieren, denn weltweit streben Milliarden an Menschen nach Wachstum und einer Steigerung ihres Wohlstands.“
Daraus folgt aus Sicht der Forscher, dass sich Wachstum und Klimaschutz nicht im Weg stehen, sondern bedingen. Allein schon, weil wirtschaftliches Schrumpfen auch die finanziellen Spielräume des Staates einschränken würde. Das verhindere Kompensationsmaßnahmen für die Verbraucherinnen und Verbraucher und gefährde damit die Akzeptanz von Klimaschutz.
(Dieser Artikel erschien zuerst im Handelsblatt)