Der Fall Alfred Dreyfus in einer Ausstellung des Pariser Museums des Judentums

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Warum nach 19 Jahren schon wieder eine große Ausstellung zu Al­fred Dreyfus im Pariser Museum für die Kunst und Geschichte des Judentums? Sein Direktor Paul Salmona erklärt es so: Wir leben in neuen Zeiten. Leider. Und zwar im Vergleich mit 2006, nicht im Vergleich mit 1894, als die Dreyfus-Affäre ihren Anfang nahm. Vielmehr sieht Salmona im gegenwärtigen Wiederauferstehen des Antisemitismus eine Parallele zum ausgehenden 19. Jahrhundert, als in Frankreich Édouard Drumont eine der per­fidesten Kampagnen gegen den angeb­lichen Einfluss des Judentums erst aus­löste (mit seinem 1886 erschienenen Buch „La France juive“) und dann orchestrierte (mit seiner hunderttausendfach gelesenen Wochenzeitung „La Libre parole“). Für die illustrierte Ausgabe des Buchs, die dessen Verbreitung noch verstärken sollte, fand Drumont 1887 ­allerdings noch keine einheimischen Zeichner: Die ganzseitigen Abbildungen mit Gruppen grotesker jüdischer „Charakterköpfe“ entnahm er deutschen Publikationen. Für ihn wurde der Feind des Feindes nicht zum Freund. Bei ­Juden als Sündenböcken waren sich die damaligen Erbfeinde einig.

Alfred Dreyfus, aufgenommen am Tag seiner Degradierung, noch im Uniformrock, von dem alle Ranginsignien entfernt wurden. Das Foto wurde nachträglich koloriert.Alfred Dreyfus, aufgenommen am Tag seiner Degradierung, noch im Uniformrock, von dem alle Ranginsignien entfernt wurden. Das Foto wurde nachträglich koloriert.Aix-en-Provence-Archives

Alfred Dreyfus, geboren 1859 als jüngster Sohn einer jüdischen Familie aus dem Elsass und mit dieser 1872 aus seiner nun deutsch annektierten Heimat weggegangen, um nicht Reichsbürger werden zu müssen, war seit 1893 als Berufsoffizier beim französischen Generalstab tätig. Ausgerechnet ihm wurde vorgeworfen, für die Deutschen spioniert zu haben. In einer Militärgerichtsverhandlung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und dem Beschuldigten sowie dessen Anwalt keinen Zugang zum Beweismaterial gewährte, wurde er im Dezember 1894 zu lebenslanger Verbannung verurteilt (die Todesstrafe war seit 1851 in Frankreich abgeschafft), was Drumont in „La Libre parole“ genüsslich vorweggenommen ­hatte: „Hochverrat“ hatte bereits am ­1. November die Schlagzeile seiner „Libre parole“ konstatiert.

Zerrspiegelbild der Ungerechtigkeit

Am 5. Januar 1895 wurde Dreyfus in nunmehr öffentlicher Zeremonie degradiert, am 21. Februar lief das Schiff aus, das ihn auf die winzige Teufelsinsel vor Französisch-Guayana brachte – ein Ziel, für das in den Tagen zuvor eigens ein neues Gesetz geschaffen worden war, denn am normalen Verbannungsort im französischen Südseegebiet hätte Dreyfus zusammen mit seiner Familie leben dürfen. Erst viereinhalb Jahre später wurde er aus seiner Einzelhaft unter unmenschlichen Bedingungen erlöst und nach Frankreich zurückgebracht: zu einer Berufungsverhandlung, in der man ihn aber noch einmal für schuldig erklärte, obwohl längst bekannt war, dass Beweise gefälscht worden waren und der wahre Verräter Ferdinand Walsin-Esterhazy hieß, ein Offizierskollege, der sich 1898 nach London abgesetzt hatte. Dreyfus wurde 1900 im Rahmen einer allgemeinen Amnestie begnadigt und 1906 dann von allen Vorwürfen freigesprochen. Man setzte ihn wieder in seinen alten militärischen Rang ein und verlieh ihm die Ehrenlegion – in einem ­feierlichen Akt, der das Zerr­spiegelbild seiner Degradierung von 1895 abgab.

 Am 20. Juli 1906 wird Alfred Dreyfus wieder in seinen alten militärischen Rang eingeführt und erhält alle Ehrenzeichen zurück.Wiedergutmachungsversuch: Am 20. Juli 1906 wird Alfred Dreyfus wieder in seinen alten militärischen Rang eingeführt und erhält alle Ehrenzeichen zurück.nahJ/Christoph Fouin

So weit, so bekannt – der Fall Dreyfus gilt als berühmteste antisemitische Justizfarce seit dem Stuttgarter Todesurteil gegen Joseph Süß Oppenheimer im Jahr 1738. Er spaltete Frankreich für Jahre, und noch 1908 schoss ein Journalist auf den rehabilitierten Dreyfus, als dieser der Überführung der sterblichen Überreste des Schriftstellers Émile Zola ins Pan­théon beiwohnte – Zola war Dreyfus’ prominentester Fürsprecher in der Affäre gewesen. Das Opfer überlebte – ein weiteres Mal.

Von seinem Beharrungsvermögen erzählt die Ausstellung, und damit betritt sie Neuland, denn seine Unterstützer hatten während der Haftzeit das Bild eines Verzweifelten propagiert, um öffentliches Mitleid auszulösen. Tatsächlich jedoch erweist sich Dreyfus in seinen Briefen aus der Haft als unbeugsam in eigener Sache. Den ihm nach der Verurteilung nahe­gelegten Gedanken an Selbstmord schob er beiseite, weil es ihm um Wahrheit und Ehre ging. In seiner Frau Lucie, die mit den gemeinsamen zwei kleinen Kindern zurückblieb, und seinem Bruder Mathieu hatte er zwei familiäre Stützen, doch die ganze Ausstellung durchziehen auf die Wände aufgetragene Zitate von Dreyfus selbst, die dessen Kampfbegier dokumentieren. Sie erlosch auch nicht nach der Rehabilitierung; weil man Dreyfus seine ungerechtfertigte fünfjährige Haftzeit nicht bei der Besoldung anrechnete, verließ er bereits 1907 die Armee (zu der er im Ersten Weltkrieg zurückkehren sollte, als es um Frankreich ging und die Rückgewinnung der elsässischen Heimat).

Die Belle Époque zeigt sich hier nicht gerade schön

Neben diesem persönlichen Porträt malt die Ausstellung ein großes gesellschaftspolitisches Panorama einer Belle Époque, die sich hier als alles andere denn schön erweist. An antisemitischen Zeichnern herrschte während der Affäre kein Mangel – Caran d’Ache und Edgar Degas dürfen wohl als die berühmtesten gelten. Die Zahl der Darstellungen, die Dreyfus als Judas diffamierten, ist Legion, und just im gleichzeitig geführten französischen Streit um die Trennung von Staat und Kirche wurde die Berufung auf die neutestamentliche Erzählung vom Verrat an Jesus zum probaten Instrument reaktionärer Propaganda, zu der sich Antidreyfusards und Antilaizisten zusammenfanden.

Die Bronzestatue von Alfred Dreyfus im Hof des Musée d’art et d’histoire du JudaismeDie Bronzestatue von Alfred Dreyfus im Hof des Musée d’art et d’histoire du JudaismemahJ/Niels Forg

Zugleich zeigt die Ausstellung auch, wie Dreyfus zum Schmerzensmann verklärt wurde. Allein sechs ­Zwicker sind in einer Vitrine aufgereiht, die er alle auf der Teufelsinsel gebraucht haben soll (immerhin einer ist von ihm selbst handschriftlich als ­authentisch beglaubigt worden). Solche Devotionalien wurden von Dreyfusards damals wie Reliquien angesehen. Die Fotoporträts, die am Tag seiner Degradierung im aller Tressen und Epauletten beraubten Uniformrock von ihm zu erkennungsdienstlichen Zwecken aufgenommen wurden, zeigen einen früh gealterten Mittdreißiger. Umso bemerkenswerter war seine Zuversicht, dass die Wahrheit ans Licht kommen würde. Immer wieder ist in seinen Briefen davon die Rede, dass man seinen Fall in Erinnerung halten müsse. Totschweigen sei ein wirksamerer Schuldspruch als das auf falschen Indizien gründende Urteil.

Obwohl dank der Nachkommen von Dreyfus etliche Objekte aus Familienbesitz ins Pariser Museum gelangt sind, in dessen Hof seit der Eröffnung des Hauses 1998 eine Bronzestatue des berühmtesten französischen Juden steht, wurde für die Ausstellung wichtiges Weiteres zusammengetragen. Leider verweigerte die israelische Nationalbibliothek die Ausleihe der Heiratsurkunde, die die Jüdische Gemeinde zur Hochzeit von Lucie und Alfred Dreyfus ausstellte; nur das bürgerliche Pendant des französischen Staates ist im Original vorhanden. Der hat an Dreyfus aber auch einiges gutzumachen. Als er schon wieder für Frankreich kämpfte, 1915, wurden sämtliche Vorführungen von Filmen zur Dreyfus-Affäre untersagt, um die Einheit der Nation im Krieg nicht zu gefährden. Dieses Verbot hatte Bestand bis zum Jahr 1950. Da war Alfred Dreyfus seit fünfzehn Jahren tot. Der Mann, der sich nicht totschweigen lassen wollte, muss die Untersagung von Filmen über ihn als letzten Affront verstanden haben.

Alfred Dreyfus – Vérité et justice. Im Museum für Kunst und Geschichte des Judentums, Paris; Bis zum 31. August. Der ebenso ­informations- wie textreiche französisch­sprachige Katalog (Gallimard) kostet 39 Euro.

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