Für den Bundeskanzler wäre es ein Leichtes gewesen, präzise und differenziert über die realen Veränderungen in Deutschlands Städten zu sprechen. Über das, was viele Menschen täglich beschäftigt: das Schließen von Traditionsgeschäften, Leerstand, Armut im öffentlichen Raum, sichtbaren Verfall, Obdachlosigkeit, offenen Drogenkonsum, Kriminalität.
Rainer Lind
Dr. med. Cihan Çelik ist Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie und Sektionsleiter am Klinikum Darmstadt. Er schreibt regelmäßig in verschiedenen Medien zu Gesundheitsthemen und politischen Themen aus der Perspektive des Gesundheitssystems, wie Fachkräftemangel und Rechtsextremismus. Während der COVID-19-Pandemie wurde er durch zahlreiche Auftritte in Fernsehtalkshows und Printmedien bundesweit bekannt. Seit 2021 führt er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Interviewreihe »Wie ist die Lage, Herr Doktor?« Für sein gesellschaftliches und medizinisches Engagement wurde er 2024 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Und ja, auch über junge Männergruppen – oft ohne Arbeit, Perspektive und mit mehr oder weniger offensichtlicher Fluchtgeschichte, die durch raumnehmendes Auftreten in Innenstädten bei Menschen Angst auslösen. Selbst wenn man dieser Beschreibung nicht zustimmt: Über all das kann und muss man offen, sachlich und lösungsorientiert sprechen.
Demonstration gegen Merz' Aussagen vor der CDU-Bundesgeschäftsstelle in Berlin: Töchter der Republik
Foto: Lilli Förter / dpaDoch Friedrich Merz hat sich anders entschieden. Er sprach zunächst vage von einem »Problem im Stadtbild«, das sich mit einer strengeren Abschiebepolitik lösen lasse – ohne zu sagen, was genau er meint. Einige Tage und eine Großdebatte später legte er noch unschärfer nach. Er wich auf Nachfrage aus, verwies auf die Töchter der Republik und meinte, alle wüssten schon, was gemeint sei.
Diese Vagheit ist somit ganz offensichtlich kein Zufall. Sie ist Strategie.
»Wenn sichtbare Andersartigkeit wieder zum Maßstab wird, wird gesellschaftliche Integration zur Farce.«
Entweder ist Merz die rassistische Anschlussfähigkeit seiner Worte egal, oder sie ist einkalkuliert. Die nahe liegende Erklärung ist: Er will Wählerinnen und Wähler zurückholen, die zur AfD abgewandert sind. Seine Worte sind bewusst anschlussfähig für jene, die schlicht zu wenige weiße, blonde Menschen in den Innenstädten sehen. Diese Art der Interpretation seiner Worte wird durch die begeisterte Zustimmung rechter Publikationen und Social-Media-Accounts bestätigt.
Die Rhetorik des Kanzlers bleibt nicht folgenlos. Sie trifft Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte und auch mich persönlich. Denn sie bricht einen gesellschaftlichen Konsens auf, der über Jahrzehnte gewachsen ist und Grundvoraussetzung für Integration ist: dass Zugehörigkeit in Deutschland nicht über Hautfarbe, Aussehen oder Herkunft, sondern über Recht, Teilhabe, Verantwortung und Verhalten definiert wird.
Straßenszene in Stuttgart: Abgrenzung nach unten
Foto: Michael Nguyen / NurPhoto / AFPWenn sichtbare Andersartigkeit wieder zum Maßstab wird, wird gesellschaftliche Integration zur Farce. Bereits heute haben viele Deutsche mit Migrationsgeschichte das Gefühl, dass ihre Zugehörigkeit zu diesem Land trotz aller Bemühungen, Leistungen und Verwurzelung jederzeit in Frage gestellt werden kann. Die Worte von Friedrich Merz verstärken dieses Gefühl noch.
Die Strategie der extremen Rechten, jedes soziale oder ökonomische Problem auf Migration, Flucht oder Asyl zu verengen, zeigt offenkundig Wirkung. Sie vergiftet nachhaltig das gesellschaftliche Klima. Es hilft auch nicht, dass Unionsleute und wohlmeinende Kommentatoren die Worte des Kanzlers damit zu »erklären« versuchen, was er denn genau gemeint haben könnte. Sie täten gut daran zuzuhören, wie die Worte bei Zugewanderten und ihren Nachkommen ankommen und was sie auslösen. Und wie sie rassistisch interpretiert werden können und es tatsächlich auch werden.
»Wer ernsthaft über das Stadtbild sprechen will, muss über Stadtplanung, Sozialpolitik, Armutsbekämpfung, Integration, Bildung und Prävention reden.«
Dass es auch in migrantischen Communities Menschen gibt, die rechtspopulistischen Erzählungen offen gegenüberstehen, ist dabei kein Widerspruch. Gerade in Krisenzeiten reagieren Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft mühsam erkämpfen mussten, empfindlich auf neue Zuwanderung und grenzen sich nach unten ab. Ein bekanntes Muster in Einwanderungsgesellschaften: Die Neuankömmlinge werden kritisch gesehen, auch von den vor ihnen Zugewanderten.
Dass Deutschlands Wirtschaft und Gesundheitssystem auf Zuwanderung angewiesen sind, steht außer Frage, wie der Kanzler selbst betont. Doch wer Migration auf Arbeitsmarktfragen reduziert, verkennt die menschliche Dimension. Max Frisch erkannte bereits 1965: »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.« Menschen, die nicht nur arbeiten, sondern als gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft anerkannt werden wollen, auch in schwierigen Zeiten. Menschen, die nach Feierabend durch ihre Stadt gehen möchten, ohne als Fremdkörper markiert zu werden. Und ja, auch darunter sind Menschen, die scheitern, die nicht erfolgreich sind, die keinen »Wert« für den Arbeitsmarkt haben, aber dennoch Teil dieser Gesellschaft bleiben.
Passanten vor dem Kölner Hauptbahnhof im März 2025: einfach, griffig und gefährlich
Foto: Ying Tang / NurPhoto / Getty ImagesDas heutige Deutschland ist vielfältig. Deutsche sind Schwarz, weiß, blond, schwarzhaarig, tragen Bart oder Kopftuch. Niemand kann am Stadtbild erkennen, wer dazugehört. Wenn Politiker trotzdem so tun, als wäre das der Fall, handeln sie rückwärtsgewandt und verantwortungslos. Sie schüren Erwartungen, die keine politische Realität erfüllen kann: Dass komplexe gesellschaftliche Veränderungen – vom Strukturwandel bis zur Verarmung der Innenstädte – mit einer verschärften Abschiebepolitik gelöst werden könnten. Wenn sie aber einen Aspekt ausmachen, den sie tatsächlich mit einer anderen Migrationspolitik verbessern möchten, dann sollten sie das präzise kommunizieren.
»Ich möchte nicht den misstrauischen Blicken meiner Mitbürger ausgesetzt sein, sobald ich nach Feierabend ohne Arztkittel durch die Innenstadt gehe.«
Wer ernsthaft über das Stadtbild sprechen will, muss über Stadtplanung, Sozialpolitik, Armutsbekämpfung, Integration, Bildung und Prävention reden. Migration ist Teil dieser Diskussion, aber nicht der Kern aller Probleme. Der Erfolg rechtspopulistischer Politik liegt darin, komplexe Zusammenhänge zu banalisieren und sie auf ein einziges Thema zu verengen. Das ist einfach, griffig und gefährlich.
Teilnehmer des AfD-Sommerfests in Magdeburg am 30. August: So lässt sich die Spaltung dieses Landes ganz sicher nicht überwinden
Foto: Rafael Heygster / DER SPIEGELDiese Entwicklung fordert die demokratische Mitte heraus. Wer versucht, nach rechts Abgewanderte mit solchen Formulierungen zurückzuholen, riskiert, eine viel größere Gruppe zu verlieren: die der über 20 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich durch solche Rhetorik zunehmend entfremdet und gekränkt fühlen.
Zu dieser Gruppe zähle ich auch mich. Es ist eine bestürzende und schmerzvolle Erkenntnis. Ich möchte nicht den misstrauischen Blicken meiner Mitbürger ausgesetzt sein, sobald ich nach Feierabend ohne Arztkittel durch die Innenstadt gehe. Dann sehe ich nämlich genauso aus wie die Menschen, die Friedrich Merz im Stadtbild zum Problem erklärt hat. So lässt sich die Spaltung dieses Landes ganz sicher nicht überwinden.
Angela Merkel hat einmal auf ähnliche Aussagen über ein sich veränderndes Stadtbild des damaligen AfD-Chefs Jörg Meuthen reagiert: Sie könne den Menschen nicht ansehen, welche Staatsangehörigkeit sie haben.
Sie definierte Zugehörigkeit damit über Recht, Teilhabe und Verantwortung. Friedrich Merz tut das offenbar nicht. Er täte gut daran zu begreifen, dass er nicht nur Kanzler von Gillamoos, sondern auch von Kreuzberg ist. Man wird die Probleme unserer Städte nicht lösen, indem man jene Menschen von sich wegstößt, die längst Teil dieses Landes sind.

vor 2 Tage
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