
Einer geht, der andere bleibt: Thomas Müller und der derzeit verletzte Bayern-Keeper Manuel Neuer nach dem Aus in Mailand
Foto:Bahho Kara / Kirchner-Media / IMAGO
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Ganz zum Schluss kamen die Emotionen doch noch. Thomas Müller war nach seinem sehr gefassten und bemerkenswert sachlichen Interview beim Streamingdienst DAZN unten am Spielfeldrand gerade auf dem Weg Richtung Kabine, als plötzlich Sprechchöre durch das ansonsten längst geleerte Giuseppe-Meazza-Stadion hallten.
Es waren die Bayern-Fans im Oberrang, die sich erhoben und den 35-Jährigen mit lauten Gesängen feierten. Müller drehte sich um, klatschte in Richtung der Fans. Mit der rechten Hand klopfte er anschließend noch viermal auf die linke Brustseite seines langen Mantels, genau auf die Stelle des Vereins-Wappens. Müller ballte ein letztes Mal die Faust. Dann verschwand er im Bauch der Arena. Und für immer von der europäischen Bühne. Zumindest im Trikot des FC Bayern.
Eine gute halbe Stunde später gab Müller Einblicke in seine Gefühlswelt. »Ich habe heute keine sentimentalen Emotionen parat«, sagte er. »Aber als die Ultras da oben ein Lied angestimmt haben, da hat der Körper reagiert. Da kam ein leichter Anflug von Gänsehaut. Das kam einfach so, ich konnte nicht viel drüber nachdenken. Ich habe eine enorme Wertschätzung gespürt.« Dann sagte Müller noch: »Und gleichzeitig sind wir ausgeschieden.«
Weshalb es auch ein ernüchternder Abschiedsabend wurde, das 2:2 bei Inter Mailand reichte nicht zum Weiterkommen. Und so stellte sich die Erkenntnis ein, dass Müller das so erhoffte Happy End am 31. Mai im eigenen Stadion versagt bleibt. Kein Finale dahoam, kein Titel dahoam, kein Müller mehr mit Henkelpott. Zumindest nicht im Trikot der Bayern. Stattdessen Endstation Mailand. San Siro Termini.
Deswegen war es für Müller auch nicht der Abend, um in alten Erinnerungen zu schwelgen. Sich nostalgisch zu erinnern an den ersten Einsatz in der Champions League, vor mehr als 16 Jahren. März 2009, eingewechselt im Achtelfinal-Rückspiel gegen Sporting Lissabon, mit auf dem Platz standen Mark van Bommel und Daniel van Buyten, vorne stürmten Miroslav Klose und Lukas Podolski.
Es war auch nicht der Moment, um voll Stolz auf die beiden Titelgewinne 2013 und 2020 zurückzublicken oder über die beeindruckende Zahl von 163 Königsklassen-Spielen zu reflektieren, Müller zog damit in der ewigen Bestenliste gleich mit Lionel Messi. Nur Cristiano Ronaldo (183) und Iker Casillas (177) sammelten noch mehr Partien in der Champions League.
»Die Zahlen bedeuten mir im Rückblick nur so viel, dass ich es immer wieder geschafft habe, mich intern durchzusetzen und immer wieder meinen Teil beitragen zu können«, sagte Müller dazu ganz ruhig.
Nein, es war nicht der Abend, das Ende einer einzigartigen internationalen Karriere beim FC Bayern zu betrauern – sondern vielmehr die an diesem Mittwoch so verschenkte Großchance auf den Einzug ins Halbfinale.
Hinten wacklig, vorne schludrig
Gerade zu Beginn spielten die Bayern furios auf, Müller glänzte in den ersten 15 Minuten mit Aktionen und Vorlagen. So, als wolle er es den Herren in der Vorstandsetage noch einmal zeigen, welche kolossale Fehlentscheidung es war, ihm für die kommende Spielzeit keinen neuen Vertrag mehr auszustellen – obwohl er doch so gerne geblieben wäre.
»In der ersten Viertelstunde hätten wir ein Tor machen müssen«, sagte Müller, »aber die blocken bei Inter natürlich auch gut.«

Abgeprallt: Die Ex-Bayern Benjamin Pavard (l.) und Yann Sommer und der Bald-Ex-Bayer Thomas Müller
Foto: Bahho Kara / Kirchner-Media / IMAGOMüller nannte Mailands Defensivspezialisten um Francesco Acerbi und Alessandro Bastoni noch »Büffel« und »reinrassige Verteidiger«, es klang nach Hochachtung und Respekt. Aber auch nach Frust, weil seine Bayern diese Phase nicht zur frühen Führung nutzten, weil sie auch ansonsten viele Gelegenheiten ungenutzt ließen. Und weil er selbst in der fünften Minute der Nachspielzeit aus fünf Metern einen Kopfball in die Arme von Inter-Torwart Yann Sommer setzte.
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Von »zwei Spielen auf Augenhöhe« sprach Müller noch, dass man die dominantere Mannschaft gewesen sei, mehr gute Torchancen gehabt hätte. Um dann auf die tatsächliche Grundproblematik zu sprechen zu kommen. »Wir haben hinten das ein oder andere Ding nicht gut weg verteidigt und hatten vorne zu wenig Killerinstinkt.« Eine Misere, die sich durch viele Spiele dieser Saison zieht und die in den beiden Spielen gegen Inter sinnbildlich verdichtet wurde. Anders ausgedrückt: In der Offensive fehlt bei vielen Chancen die Effizienz. Und in der Abwehr machen sie es den Gegnern beim Toreschießen viel zu einfach. Wie nun in den Duellen mit Inter bei den vier Gegentoren.
Auffallend war auch am Mittwochabend, dass ihnen die Führung zu Beginn der zweiten Halbzeit keine Sicherheit gab, zehn Minuten nach dem 1:0 durch Harry Kane lagen sie bereits 1:2 zurück. Inter genügten zwei Eckbälle, um das Spiel zu drehen. Auch im Hinspiel in München fingen sich die Bayern unmittelbar nach dem Ausgleich postwendend den fatalen Gegentreffer zum 1:2, auch am Samstag gegen Dortmund versäumten es die Münchner, eine 2:1-Führung über die Zeit zu spielen, Endstand: 2:2.
Wird die Meisterschaft nochmal spannend?
Wenn ein FC Bayern früher vorne lag, konnte man das Stadion verlassen oder den Fernseher abdrehen, da passierte nicht mehr viel, sie schaukelten die Spiele einfach souverän nach Hause oder erzielten noch weitere Treffer, es wurde eher langweilig. Beim FC Bayern der Gegenwart ist das ganz anders. Da wird’s bei einer Münchner Führung erst richtig spannend.
Auch Joshua Kimmich rätselte, warum es der Mannschaft wie in so vielen Spielen zuvor nicht gelang, »das Ergebnis zu ziehen«, wie er meinte. »Das ist das, was uns abgeht, dass wir es nicht schaffen, das Übergewicht in positive Ergebnisse umzumünzen.« Von den vergangenen acht Spielen gewann der FC Bayern tatsächlich nur drei, Kimmich mahnte bereits an, den Trend zu stoppen, ansonsten stehe auch noch die Meisterschaft auf dem Spiel, trotz sechs Punkten Vorsprung auf Verfolger Leverkusen fünf Spieltage vor Saisonende. Und dann könnte es in München noch richtig ungemütlich werden.
Am Samstag geht es für die Truppe von Vincent Kompany erst einmal nach Heidenheim. Von San Siro auf den Schlossberg, »ein harter Break«, wie Thomas Müller bekannte. Seine eigene Zukunft ließ er offen, ob es ihn in die USA zieht, die Premier League oder doch in die Serie A? »Die Planung kenne ich noch nicht, ich habe auch nichts vorangetrieben, es ist auch völlig egal«, meinte Müller, der noch bis zur Abfahrt des Mannschaftsbusses zum Bankett weit nach Mitternacht vor vielen Mikrofonen und Aufnahmegeräten Interviews gab.
Möglich, dass man ihn noch einmal für einen anderen Klub in der Champions League spielen sieht. Möglich, dass er Lionel Messi noch hinter sich lässt. Doch Müller im Trikot der Bayern in der Königsklasse, dieses Kapitel ist seit Mittwochabend wohl für immer Geschichte.