Champions League: Lamine Yamal vom FC Barcelona – Ein Phänomen, das nur alle 50 Jahre erscheint

vor 2 Tage 1
Barcelonas-Offensivspieler Lamine Yamal war mal wieder nicht zu stoppen

Barcelonas-Offensivspieler Lamine Yamal war mal wieder nicht zu stoppen

Foto:

Nacho Doce / REUTERS

Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.

Lamine Yamal war stinkig. Nach dem Abpfiff stapfte er allein in Richtung Kabine, nur ein paar geflüsterte Worte von Trainer Hansi Flick schienen ihn noch mal auf den Platz zurückzuschicken. Ah ja, stimmt: die 100!

Kapitän Marc-André ter Stegen drückte Lamine also ein Trikot in die Hand, und damit stellten sie sich alle miteinander für ein Erinnerungsfoto auf, die Spieler des FC Barcelona. So machen sie es immer, wenn einer von ihnen ein rundes Jubiläum feiert. Und Yamal hatte im zarten Alter von 17 Jahren tatsächlich schon sein hundertstes Pflichtspiel für die erste Mannschaft absolviert.

Aber darüber verlor er später kaum ein Wort. Auch nicht darüber, dass er mit einer stratosphärischen Darbietung gerade die Fußballwelt aus den Angeln gehoben hatte; jedenfalls für alle, die ihn noch nicht so kannten, oder die, die sich auf die großen Spiele fokussieren wie dieses Halbfinalhinspiel gegen Inter Mailand in der Champions League. Was Lamine interessierte, war das Ergebnis von 3:3, und es gefiel ihm nicht: »Ich denke immer ans Gewinnen, das ist Wichtigste. Deshalb war ich etwas verärgert.«

Über den Überbau und die Überhöhungen hatte er schon vor dem Match gesprochen, auf der offiziellen Pressekonferenz. Auch das war ein ziemlich denkwürdiger Auftritt, so jugendlich erfrischend und gleichzeitig lässig routiniert. Geradezu poetisch mit Sätzen wie »Der Fußball kennt kein Alter« oder »Das Herz trägt dich weiter als der Körper«. Aber auch so schlagfertig wie bei der Frage, ob ihm Hype und Druck nicht manchmal selbst Angst machen: »Die Angst habe ich im Park in Mataró gelassen«, seiner Geburtsstadt, wo er schon als kleiner Bursche mit den Jugendlichen kickte.

Die Vergleiche mit demjenigen, der ihn als Baby badete, lassen sich ja bereits nicht mehr verhindern. Also: Lionel Messi brauchte nicht nur bis zum 20. Lebensjahr, ehe er seine ersten 100 Spiele für Barça komplettierte. Er kommt auch bis heute nicht so ungezwungen rüber wie der erste große Fußballstar der Generation Streaming.

Die Elogen kann einer wie Lamine Yamal entspannt den anderen überlassen. Der Weltpresse, die ihn am Morgen nach dem Inter-Spiel einen »Außerirdischen« nannte. Angriffskollegen wie Erling Haaland, der auf Snapchat kommentierte: »Dieser Junge ist unglaublich«. Dazu ein Foto von Lamines Bierdeckeldribbling an der rechten Torauslinie, nachdem Inter-Torwart Yann Sommer seinen Schuss mit einem starken Reflex noch an die Latte gelenkt hatte.

Welches sich wiederum kurz nach seinem brillanten wie scheinbar anstrengungslosen Solo zu Barças erstem Tor ereignete; ganz allein gegen Inters Catenaccio und den in jenem Moment sehr unfreundlichen Spielstand von 0:2. Und vor dem Schlenzer, der in der zweiten Hälfte in hohem Bogen aus dunklem Himmel auf die Latte herabfiel, so wundersam wie eine Sternschnuppe. Die Aktion sollte wohl eigentlich eine Flanke werden, aber selbst die unabsichtlichen Dinge sahen bei Yamal an diesem Abend aus wie Kunstwerke.

Es gab nach diesem Spiel sogar einen, der so verblüfft war, dass er kaum über etwas anderes sprechen konnte: der Mailänder Trainer, Simone Inzaghi.

»Vor dem Computer ist das halt immer ein bisschen einfacher«

Wonach er auch gefragt wurde, Inzaghi landete immer wieder bei Lamine. Man konnte erahnen, wie sich der Inter-Coach davon überzeugen musste, dass da nicht seine Berufsehre beleidigt worden war. Wie er zu rationalisieren versuchte, dass es ihm, einem italienischen Taktikgenie, passieren konnte, von einem einzelnen Spieler seinen Abwehrplan in Fetzen gerissen zu bekommen. »Vor dem Computer ist das halt immer ein bisschen einfacher«, sagte Inzaghi, er habe Yamal zum ersten Mal in natura gegen sich gehabt, und auch wenn er so nicht sagte: Er schien schon einzugestehen, dass er sich ihn so nicht vorstellen konnte. Mamma mia, »ich bin wirklich beeindruckt.«

 »Dieses Talent, das nur alle 50 Jahre kommt«

Lamine Yamal: »Dieses Talent, das nur alle 50 Jahre kommt«

Foto:

Joan Monfort / AP

Unter dem Strich sprach sich Inzaghi von aller Schuld frei. Mehrfach erklärte er über Lamine: »So ein Phänomen wird nur alle 50 Jahre geboren.«

Inzaghi konnte sich aber auch deshalb generös zeigen, weil er ja auch genügend Grund zum »Stolz« hatte. Barça sei »ganz klar die offensivstärkste und am schönsten anzuschauende Mannschaft in Europa«, sagte der Coach. Bei diesem Team ein 3:3 erwirtschaftet zu haben, sei ein »fantastischer« Ausweis von »Organisation und Herz« seiner Elf.

Barcelonas Schwäche bei Standards

Sogar einen eigenen Helden konnten die Italiener präsentieren, wenn auch vielleicht eher einen flüchtigen als einen epochalen. Doch an einem Abend, an dem Lamine Yamal die Sterne vom Himmel spielte, wurde tatsächlich ein anderer Profi von der Uefa zum MVP des Spiels ernannt. Inters rechter Außenbahnspieler Denzel Dumfries hatte zwei Tore und eine Torvorlage beigesteuert. Schon nach einer halben Minute stellte er erstmals die poröse Barça-Abwehr bloß, als er Marcus Thuram das 0:1 auflegte. Danach traf er zweimal nach Eckbällen.

Es waren Inters einzige zwei Eckbälle in der gesamten Partie.

Die Defizite von Barça waren insofern schnell benannt. »Wir wissen, dass sie eines der besten Teams nach Standards sind«, konzedierte Flick. »Sie haben eine andere Körpergröße als wir. Aber wir müssen das trotzdem besser verteidigen.«

 »Organisation und Herz«

Inter-Trainer Inzaghi: »Organisation und Herz«

Foto: S. Ros / Sergio Ros / IMAGO

Flick zeigte sich insgesamt weit weniger unzufrieden mit dem Ergebnis als Yamal und dessen ebenfalls hadernde Mitspieler. Mit seiner ultrariskant hohen Abwehrlinie legt es der deutsche Trainer geradezu an auf solche Shootouts, die den Kontinent nun von der Grandezza des Fußballs schwärmen lassen. Und bisher hat sie sein Barça letztlich allesamt erfolgreich bestritten. In der Champions-League-Vorrunde mit einem 5:4 bei Benfica Lissabon und einem 3:2 bei Borussia Dortmund. Oder gerade erst am Wochenende mit dem 3:2 nach Verlängerung im Pokalfinale gegen Real Madrid.

Was passiert in Italien?

Noch lieber denken sie in Barcelona jetzt aber an das Pokalhalbfinale gegen Atlético Madrid. Auch da stieg das Hinspiel zu Hause, auch da lag man schnell 0:2 zurück, auch da stand es nach 90 Minuten remis, 4:4 sogar. Das Rückspiel gewann Barça auswärts 1:0.

Seine Spieler habe er nach dem Match in Ruhe gelassen, sagte Flick. »Manchmal ist es besser, zu schlafen und am nächsten Tag mit ihnen zu sprechen.«

Die Aufgabe seines Trainerteams für das Rückspiel am Dienstag ist klar: Ideen gegen Inters Standards zu entwickeln, die im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion noch gefährlicher sind und dort schon die Bayern im Viertelfinale erledigten. Inzaghi weiß sowieso, was er zu tun hat: »Lamine Yamal wird natürlich ein spezielles Augenmerk gelten müssen.«

Denn eines wird sich ja nicht ändern, nicht bis zum Rückspiel und vielleicht nie. »Dieses Talent, das nur alle 50 Jahre kommt«, sagte Flick, als er mit Inzaghis Worten konfrontiert wurde: »Ich bin wirklich froh, dass es für Barça spielt.«

Gesamten Artikel lesen