Champions League Inter Mailand vs. FC Barcelona: Das Fußball-Epos von San Siro

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Es war die letzte große Chance des FC Barcelona, am Ergebnis noch etwas zu ändern. Und an einem Abend, an dem jederzeit alles passieren konnte, wurde so doch noch ein folgerichtiger Schlusspunkt gesetzt. Denn der Showdown zwischen dem Schweizer Torwartroutinier, 36 Jahre alt, und dem katalanischen Ausnahmetalent, 17, war das wiederkehrende Element des Plots gewesen, das Duell im Duell. Sommer gewann es, er steht mit Inter im Champions-League-Endspiel.

 »Sommerrr? Sommerrrrrr!«

Mailands Torwart Yann Sommer (vorn): »Sommerrr? Sommerrrrrr!«

Foto: Nderim Kaceli / IPA Sport / IMAGO

»Kannst du es glauben?«, riefen sich die Fans zu. Und sangen immer wieder den liebsten ihrer vielen Songs: »Für die Leute, die nur dich lieben, für all die Kilometer, die ich für dich gemacht habe: Die Internazionale muss gewinnen.«

Wie im Tiebreak beim Tennis

Ja, die Internazionale gewann, es kommen wieder Kilometer auf den Zähler. Die Internazionale fährt nach München, sie unternimmt nach dem unglücklich verlorenen Finale 2023 gegen Manchester City den nächsten Anlauf auf den Titel. Und mit dem Ex-Bayern-Keeper Sommer spielt so wenigstens einer das Finale »dahoam«.

Sommer und Yamal hatten schon die reguläre Spielzeit beendet. Yamal tauchte allein vor Sommer auf. Sommer parierte. Dass sich die Szene in derselben Nachspielzeit ereignete, in der Inter gerade erst zum 3:3 ausgeglichen hatte und in der Lamine vorher den Pfosten getroffen hatte, gibt einen Eindruck von der bisweilen fast schon unerträglichen Dichte des Geschehens im San Siro, diesem Mailänder Fußballtempel mit seiner argentinisch anmutenden Stimmung voller überbordender Gesänge.

 Der Fußball als Sieger

Inter jubelt, Barça trauert: Der Fußball als Sieger

Foto: Andrea Staccioli / Insidefoto / IMAGO

Beim Anpfiff der Verlängerung hüpfte und schrie das ganze San Siro. Zur Hommage an ihr Team, das Spiel, ein bisschen vielleicht auch den ganzen Fußball. Und in freudiger Erwartung: Es ging ja jetzt noch mal so richtig los.

Nach 180 Minuten in Hin- und Rückspiel stand es 6:6. Doch auch wenn keiner zu verlieren verdient hatte, musste es einen Gewinner geben. Am Ende hieß es 7:6. Wie im Tiebreak beim Tennis.

Fußball aus einer anderen Dimension

Um noch kurz im Bild zu bleiben: Wie bereits im Hinspiel vorige Woche folgte ein Break dem anderen. Immer wenn eine Seite das Match für sich entschieden zu haben schien, ließ sie nach oder kam die andere zurück.

Barcelona wirkte kurz nach der Halbzeit schon so desillusioniert, dass Frenkie de Jong nach einem Ballverlust gar nicht mehr mit nach hinten lief. Da stand es 2:0 für Inter. Die Mailänder wiederum brachten ihre eigenen Fans mit ihren Fehlpässen aus der Abwehr und ihrer plötzlich konfusen Raumaufteilung nach dem 2:2 um Sinn und Verstand.

Barças 2:3 in der 87. Minute schien der Sargnagel auf ihrem Grab. Bis plötzlich der 37-jährige Innenverteidiger Francesco Acerbi vor dem gegnerischen Tor auftauchte.

Was er da machte? Wann er sein bisher letztes Tor mit dem Fuß geschossen hatte? Keine Fragen für eine solche Nacht. Acerbi war halt einfach da und schloss einen Angriff ab.

 Nackter Wahnsinn

Francesco Acerbi,Torschütze zum 3:3-Ausgleich für Inter: Nackter Wahnsinn

Foto: Dan Mullan / Getty Images

Wie es sich für so ein Spiel gehört, gab es also nicht nur die großen Stars wie Yamal und Pedri, die mal wieder Fußball aus einer anderen Dimension zeigten. Oder Sommer, der trotz so vieler Tore als Keeper zum Mann des Spiels ernannt wurde, berechtigterweise.

Es gab auch Acerbi. Es gab Stars des Leidens wie den angeschlagenen Lautaro Martínez, der mehr zu humpeln als zu laufen schien und trotzdem das 1:0 schoss sowie den VAR-Elfmeter zum 2:0 herausholte. Es gab solche von der Ersatzrampe, wie die improvisierten Barça-Außenverteidiger Eric García und Gerard Martín, nur aufgrund von Verletzungen im Team, aber mit Tor und Vorlagen die Initiatoren der Aufholjagd ihres Teams. Und es gab David Frattesi, den Schützen des finalen 4:3.

»Ich habe so viel geschrien, dass ich am Ende alles schwarz gesehen habe.«

David Frattesi, Siegtorschütze für Inter Mailand

Wie von Sinnen bejubelte er sein Siegtor, »ich habe so viel geschrien, dass ich am Ende alles schwarz gesehen habe«. Mittelfeldmann Frattesi, 25, ist zwar italienischer Nationalspieler, aber bei Inter seit seinem Wechsel vor knapp zwei Jahren nur Ergänzungsspieler. Noch im Wintertransferfenster wurde über seinen Verkauf spekuliert.

Mit dem gebotenen Pathos fügte er nun hinzu, er sei ja nicht gerade der übliche Verdächtige für so einen Treffer: »Aber ich war immer der Letzte, der aufgab, und der Erste, der glaubte. Das ist ein Preis für den Einsatz und die Hingabe.«

Vorsätzliches Chaos

Der Treffer war außerdem ein Sinnbild für Inters Art des Fußballs. Die Elf von Simone Inzaghis ist eine Mannschaft der Intervalle. Sie greift wenig an, aber dann mit Wucht. Wenn sie sich mal in der gegnerischen Hälfte festsetzt, entfaltet sie dabei erstaunlichen Druck und kommt fast immer zu sehr klaren Torchancen.

Oft reicht ein gewonnener Zweikampf, das Vorpreschen mehrerer Spieler provoziert eine Flipper-Situation, und plötzlich sind die Italiener mit etlichen Spielern in und am Strafraum. Es geht um vorsätzliches Chaos, das die gegnerische Abwehr aus der Ordnung bringt.

Genau so fiel auch Frattesis Tor. Um die Sequenz einzuleiten, hatte nach minutenlanger Verteidigung ein gewonnenes Kopfballduell von Marcus Thuram nach einem langen Ball genügt, schon schwärmten die Mailänder aus.

Der Finalist Inter ist gewissermaßen eine sehr menschliche Mannschaft, weitab von durchgängiger Perfektion. Gegen Rivalen vom Schlage Barças muss er Schwächen offenbaren, schafft diese aber über weite Strecken zu kaschieren, durch Leidenschaft, Geschick, Automatismen, Taktik.

Sein Endspieleinzug transportiert damit auch eine höhere Moral, eine Inspiration für viele Vereine. Denn die Mailänder Internazionale hat zwar einen großen Namen. Aber in der europäischen Geldrangliste ist sie nur die Nummer 14. Die fehlenden Einnahmen sind ein Grund, warum immer wieder über einen Auszug aus dem San Siro und einen Stadionneubau nachgedacht wird.

»Es gibt nichts wie das San Siro.«

Federico Di Marco, Inters Linksverteidiger über die Wirktmacht des Giuseppe-Meazza-Stadions

Andererseits hatte das Stadion das Spiel mit gewonnen, da waren sich die Interisti einig. »Es gibt nichts wie das San Siro«, sagte Linksverteidiger Federico Di Marco. Wenn man in Italien das Match nun sogleich mit dem 4:3 der »Nazionale« gegen Deutschland im Halbfinale der WM 1970 verglich, dem »Spiel des (vorigen) Jahrhunderts«, dann ist daran auch das Detail der Orte interessant. Damals wurde im legendären Aztekenstadion gespielt. Solche Spiele passieren nicht in austauschbaren Arenen mit Namenssponsor, sie gehören in die größten Opern.

Auf dem Wimmelbild nach dem Schlusspfiff feierten die vom Regen durchnässten Inter-Spieler zu einer Kaskade von Fanhymnen. Kurz und fast scheu feierte auch der zurückhaltende Inzaghi, verspotteten die Fans ihren Erzrivalen Juventus Turin, tröstete Thuram den untröstlichen Lamine und trug der exzellente Verteidiger Alessandro Bastoni dessen eingetauschtes Trikot.

 »Der besten Spieler, gegen den ich je gespielt habe«

Barcelonas Star Lamine Yamal im Duell gegen zwei Inter-Profis: »Der besten Spieler, gegen den ich je gespielt habe«

Foto: Antonio Calanni / AP / dpa

»Den besten Spieler, gegen den ich je gespielt habe«, nannte Bastoni den Teenager, und auch das gehörte zu diesem Spiel: die mal stille, mal in lauten Pfiffen dargereichte Ehrfurcht des Publikums bei jedem Ballbesitz Yamals, das erleichterte Seufzen, wenn die Szene ohne Tor überstanden war.

Schon dank ihm ist garantiert, dass dieses junge, mitreißende Barcelona nicht zum letzten Mal um einen Champions-League-Titel mitgespielt haben wird. Der deutsche Trainer Hansi Flick erklärte mit allem Grund, dass seine Spieler »stolz in den Spiegel schauen können, wenn sie heute Nacht um vier Uhr nach Hause kommen«.

Vorher, beim Abgang, hatte er allerdings auch dem Schiedsrichter etwas zu sagen. Szymon Marciniak war unter vielen Helden des Abends der Antiheld, jedenfalls für die Katalanen.

 Eine große Oper

Inter-Fans im San Siro: Eine große Oper

Foto: Tiziano Ballabio / IPA Sport / ipa-agency.net / IMAGO

»Ich habe ihm gesagt, was ich denke: Dass das Ergebnis ungerecht ist wegen seiner Entscheidungen«, berichtete Flick. Er beklagte, dass »alle 50-50-Entscheidungen zugunsten von Inter fielen«.

Marciniak war bei den strittigsten wie dem Elfmeter zum 2:0 allerdings nur Erfüllungsgehilfe des Videoassistenten (VAR), der ihn mal rief, um aus 80 Zeitlupen die vermeintlich passende zu studieren, und mal eben nicht. Im Kabuff saß dabei mit Pol van Boekel ein Mann, der Barça schon öfter benachteiligt hatte, allen voran an Ort und Stelle bei einem Gruppenspiel vor zwei Jahren. Ihrer an sich heroischen Niederlage gab das für die Katalanen einen bitteren Beigeschmack.

Nur die Sieger müssen sich nicht mit dem VAR aufhalten. An den Abgängen der ikonischen Rundtürme von San Siro, in etlichen Gruppen vor dem Stadion und noch weit später in Hupkonzerten feierten die Inter-Fans in dieser epischen Nacht: ihr Team, das Spiel, vielleicht auch den ganzen Fußball.

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