Im Nordwesten Syriens sind Dschihadisten bei den schwersten Kämpfen seit Jahren laut Aktivisten und Augenzeugen in die Großstadt Aleppo eingedrungen. Die Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und ihre Verbündeten »kontrollieren fünf Stadtteile der Stadt Aleppo«, sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP am Freitag. Die russische Armee erklärte, sie gehe mit Luftangriffen gegen regierungsfeindliche Kämpfer im Norden Syriens vor.
Die Dschihadisten und ihre von der Türkei unterstützten Verbündeten seien »ohne nennenswerten Widerstand« der syrischen Armee vorgerückt, sagte Rahman weiter. Demnach erreichten die Kämpfer die Tore der Stadt, nachdem sie zuvor »zwei Selbstmordanschläge mit Autobomben verübt hatten«.
Die syrische Regierung teilte dagegen mit, die Armee habe die »Großoffensive bewaffneter Terrorgruppen« auf Aleppo abgewehrt und mehrere Stellungen zurückerobert. Die Armee entsandte Verstärkung in die zweitgrößte Stadt Syriens, in deren Umkreis es Regierungsangaben zufolge bereits zuvor zu »heftigen Kämpfen und Zusammenstößen« gekommen war. Laut syrischen Medien wurde Aleppo auch erstmals seit vier Jahren von HTS bombardiert. Vier Zivilisten wurden demnach getötet.
»Zum ersten Mal seit fast fünf Jahren hören wir ständig Raketen und Artilleriegranaten, manchmal auch Flugzeuge«, sagte ein 51-jähriger Bewohner von Aleppo der AFP am Telefon. Die Menschen hätten Angst, »dass sich das Kriegsszenario wiederholt und wir gezwungen sein werden, aus unserer Heimat zu fliehen«. Zwei Anwohner berichteten von Kämpfern auf der Straße und Panik.
Russlands Luftwaffe greift ein
Die russische Luftwaffe bombardiere »Ausrüstung und Personal illegaler bewaffneter Gruppen« zitierten russische Nachrichtenagenturen einen für Syrien zuständigen Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau. 200 Kämpfer seien bei den russischen Angriffen der vergangenen 24 Stunden getötet worden, erklärte der russische Ministeriumssprecher zudem.
Die Syrische Beobachtungsstelle meldete zudem 23 Luftangriffe syrischer und russischer Kriegsflieger auf die Rebellenhochburg Idlib.
Die Beobachtungsstelle erklärte, die Dschihadisten hätten innerhalb der vergangenen Tage bereits »mehr als 50 Dörfer und Städte« in den Regionen Aleppo und Idlib im Norden und Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Am Freitag hätten die Dschihadisten die an einem Verkehrsknotenpunkt gelegene Stadt Sarakib eingenommen.
Im Nordwesten Syriens grenzt die großteils von der Regierung kontrollierte Provinz Aleppo an die letzte große Rebellen- und Dschihadisten-Hochburg Idlib. Die Dschihadistengruppe HTS ist ein syrischer Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida und kontrolliert große Teile von Idlib, aber auch angrenzende Gebiete in den Regionen Aleppo, Hama und Latakia.
Überraschendes Wiederaufflammen des Bürgerkriegs
Am Mittwoch hatten die Dschihadisten und ihre Verbündeten eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der Regierung gestartet – es sind die heftigsten Kämpfe seit dem Jahr 2020. Nach Angaben der Beobachtungsstelle wurden dabei bis Freitag 277 Menschen getötet, ein Großteil von ihnen Kämpfer auf beiden Seiten, aber auch Zivilisten.
Die Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen.
Der syrische Bürgerkrieg hatte 2011 begonnen, nachdem Präsident Baschar al-Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Eine halbe Million Menschen wurden getötet und Millionen weitere vertrieben.
Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und dem Iran erlangte die syrische Regierung 2015 die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück. Auch die Großstadt Aleppo eroberte Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe und unter Einsatz massiver Bombenangriffe zurück.
Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte.