Die humanitäre Lage in Gaza ist desaströs. Ein verwunderter Kinderarzt und der Koch einer Suppenküche, mit denen DIE ZEIT seit Monaten in Kontakt steht, berichten.
27. November 2024, 17:28 Uhr
Während im Libanon ein Waffenstillstand zwischen der Terrormiliz Hisbollah und Israel verkündet wurde, läuft im Norden des Gazastreifens die im Oktober erneut begonnene Offensive der israelischen Armee (IDF) weiter. Nach eigenen Angaben der IDF sind Kämpfer und Stellungen der Terrorgruppe Hamas Ziel ihrer Angriffe. Klar ist aber auch, dass die humanitäre Lage in und zwischen den Orten Beit Lahia, Dschabalia und Beit Hanun sich seitdem stetig verschlechtert. Internationale Experten schlagen Alarm und warnen vor einer akuten Hungersnot.
Dass die Lage katastrophal ist, bestätigen
Bewohner, mit denen DIE ZEIT seit Monaten in Kontakt steht. Mahmud Almadhoun,
der seit über einem Jahr eine Suppenküche in Beit Lahia betreibt, berichtet,
dass keinerlei Hilfsgüter die Gegend erreichten. Die Preise für Lebensmittel
und andere wichtige Güter seien stark angestiegen. Er könne nur noch helfen,
weil er und seine Mitstreiter nach wie vor Spendengelder bekommen, die sein
Bruder Hani in den USA sammelt. Im Frühjahr dieses Jahres war die Lage schon
einmal ähnlich verzweifelt gewesen. Damals hatte DIE ZEIT in einem Dossier auch über die Suppenküche berichtet, die von den beiden Brüdern und anderen
Freiwilligen hochgezogen wurde, und die damals an die 500 Familien täglich mit
Essen versorgte.
Mehrere Hilfsorganisationen machten damals die prekäre Sicherheitslage und die strengen Kontrollen der zuständigen israelischen Behörde Cogat dafür verantwortlich, dass zu wenig Hilfe in den Gazastreifen gelangt. Mittlerweile, schreiben diese Organisationen auf Anfrage, sei das Nadelöhr noch enger geworden. Anfang Oktober habe die israelische Behörde kommerzielle Lieferungen gestoppt, die Zahl der durchgelassenen Lastwagen sank auf den niedrigsten Stand seit Kriegsbeginn. Die Behörde lasse nach wie vor viele Güter nicht durch, etwa Holz für Zelte. Die Straßen in Gaza seien zudem zerbombt, die Logistik komplex und lebensgefährlich, es gebe Plünderungen, Beschuss und weder genug Lastwagen noch Fahrer.
Die israelische Behörde Cogat weist Vorwürfe, die Lieferungen zu verzögern, allerdings als "unbegründet und falsch" zurück. Schuld an der Not seien vielmehr die Vereinten Nationen (UN), die die Hilfe koordinieren. Da gebe es "erhebliche Ineffizienz". Derzeit würden 730 Hilfslastwagen auf palästinensischer Seite auf Abholung warten, schreibt ein Sprecher. Israel setze beträchtliche Mittel ein, um humanitäre Hilfe zu leisten.
DIE ZEIT hatte im Mai auch über den Kinderarzt Hussam Abu Safiya berichtet, den Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses und Leiter der pädiatrischen Abteilung. Im April sagte Abu Safiya der ZEIT, dass bereits 26 Kinder infolge von Dehydrierung und Mangelernährung gestorben seien. Es fehle an Medikamenten, um die Patienten zu versorgen, sagte er damals.
Der letzte Kinderarzt ist nun selbst verwundet
Nun ist es Hussam Abu Safiya selbst, der
Hilfe braucht: "Ich werde vermutlich einen Gefäßchirurgen benötigen, aber
unglücklicherweise ist es so, dass wir nun selbst um das bitten, was wir für
unsere Patienten erbeten haben", sagt er in einem Video-Interview. Das
Interview hat Mahmoud Almadhoun aufgenommen und der ZEIT zugesandt. Almadhoun
sagt, dass er seit einigen Wochen auch die Angestellten des Krankenhauses mit
Essen versorge und deswegen oft vor Ort sei.
Abu Safiya benötigt Hilfe, weil er vor einigen
Tagen bei einem Angriff der israelischen Armee verwundet wurde. "Ich melde mich
aus dem Inneren der Intensivstation", sagt der Arzt in dem Video-Interview, auf
einem Krankenhausbett liegend. "Es gab eine Entwicklung in meinem Zustand, eine
schwere Blutung, die an diesem Morgen begann, und die von meiner Verletzung
herrührt."
Was genau vorgefallen ist, lässt sich nicht
unabhängig verifizieren. Aber Statements der israelischen Armee, Berichte
internationaler Medien und Hilfsorganisationen sowie Social-Media-Posts von Abu
Safiya bieten Anhaltspunkte, um nachzuzeichnen, wie sich die Situation im Kamal-Adwan-Krankenhaus
im Verlauf der vergangenen Wochen entwickelt hat.