ARD-Doku zur Zeitenwende: Anne Will macht uns Angst

vor 6 Stunden 1

Dass die Journalistin und frühere Talkshow-Moderatorin Anne Will nach der Aufgabe ihrer gleichnamigen Sendung in der ARD dem Fernsehen nicht den Rücken kehrt, war eine ausgemachte Sache. Sie hat nun ihren Arbeitsplatz verlegt. Sie geht raus aus dem Studio und fährt in großer Nachdenklichkeit durchs Land – zu „den Menschen“ mit ihren Nöten und Ansichten, wie es das Informationsfernsehen so macht, hin auch zu Entscheidungsträgern, Unternehmern und Politikern.

Dass das Erste für ihr Doku-Roadmovie „Angst vor Krieg. Die Deutschen in der Zeitenwende“ den linearen Sendeplatz um 20.15 Uhr freiräumt, ist bemerkenswert. Anscheinend zählt doch nicht nur noch das Digitale, die ARD-Mediathek, wenn man ein Publikum erreichen will, das sich mit Politik und dem aktuellen Mentalitätswandel auseinandersetzt. Etwas Weiteres ist bemerkenswert. Der Name, die Marke „Anne Will“ taucht, anders als zu erwarten, im Titel der Reportage gar nicht auf.

Sehenswert trotz Stimmungsbildmache

Prominenz bringt Zugang, und das macht „Angst vor Krieg“ neben aller Stimmungsbildmache sehenswert. Mit Anne Will zeichnet Julia Friedrichs (Buch und Regie) für diesen öffentlich-rechtlichen Beitrag zur Deutschlandlage verantwortlich. Friedrichs ist bekannt für ihre Dokumentationen zum Thema Klassismus („Ungleichland“, „Die geheime Welt der Superreichen – das Milliardenspiel“) und hat sich als Autorin gut lesbarer, aber nicht unumstrittener Bücher wie „Gestatten: Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen“ einen Bestsellernamen gemacht. Die Will/Friedrichs-Produktion „Angst vor Krieg“ nun sieht aus wie die Absicht, Wills Seriositätsversprechen mit Friedrichs’ Geschick für Storytelling zu verbinden. Was gelingt, ist die Auswahl der Gesprächspartner der Presenterin Will. Sie sind interessant bis hochinteressant, die Schauplätze sprechend, die Inszenierung der Interviews ist abwechslungsreich und wird durch persönliche Eindrücke Wills (vermittelt durch ihre Off-Stimme) ergänzt.

Die Prominenz der Moderatorin und Reisenden ist aber auch der größte Störfaktor. Wenn sie mit dem sechzehnjährigen Theo, der Soldat werden will, beim Schnuppercamp am deutschen Marinestützpunkt in Kiel spricht, suggerieren ihre Fragen nicht nur wertende Autorität, sondern Skandalöses, als ob es die Absicht der Bundeswehr wäre, Minderjährigen sofort Waffen zur Landesverteidigung in die Hand zu geben. Im Auto dann hört Will noch Reinhard Meys Song aus den Achtzigern über den Vater, der seine Söhne nicht „geben“ will für Krieg, sodann spricht sie mit Theos Mutter wie vertraut am Esstisch. Die Mutter spricht abgewogen wie ihr Sohn. Will gibt sich skeptisch, neugierig, interessiert, kritisch, auch mit den Bundeswehr-Gesprächspartnern der „Brigade Litauen“ an der Außengrenze des NATO-Gebiets.

Trailer„Angst vor Krieg. Die Deutschen in der Zeitenwende“

Bei der Sicherheitskonferenz in München mit dem notorischen Auftritt des amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance („New Sheriff in Town“) fängt sie Reaktionen von Boris Pistorius und Norbert Röttgen ein. Sie trifft einen Bunker-Verkäufer, dessen Geschäft rasend schnell wächst (besonders in dieser Szene bemerkt man Friedrichs’ „unterhaltsame“ Handschrift), ergänzt den konstatierten Befindlichkeits- oder Mentalitätswandel der Deutschen durch Umfragezahlen von Infratest Dimap. Das Ehepaar Thomas Stanger und Lotte Salingré, das dem BSW vor der Bundestagswahl fünf Millionen Euro spendierte, darf ungebremst über das Putin-Narrativ von der angeblich akuten Bedrohung Russlands schwadronieren.

Gespräch mit dem russischen Botschafter

Den interessantesten oder bedrohlichsten Gesprächspartner montiert der Film an den Schluss. In der russischen Botschaft in Berlin trifft Anne Will den russischen Botschafter Sergej J. Netschajew („Keine Sorge, ich beiße nicht – heute“). Am Tisch sprechen beide, er die Hände ruhig verschränkt, sie zunehmend gestikulierend, schließlich mit dem Finger zeigend. Der Botschafter antwortet mit mehr oder weniger latenten Provokationen auf Wills seltsame, „aufdeckende“ Fragen („Sind Sie unser Gegner? Müssen die Deutschen Angst vor Russland haben?“). Zum Thema Ukraine „werden wir uns nicht einigen“ (Will). Die „Kriegsangst“ in Deutschland bezeichnet Netschajew als Ansteckung durch „militaristische Psychose“ und führt seine Interviewerin schließlich durch einen Saal mit den vergoldeten Wappen aller ehemaligen Sowjetrepubliken. Symbolpolitik.

Die Absicht, einander vorzuführen, ist mit Händen zu greifen. Zum Vorschein kommt aber vor allem ein gewisser Gruselwert. Überhaupt hätte dem Filmtitel „Angst vor Krieg“ ein Fragezeichen gut angestanden. Erst subtiler, zum Ende hin deutlich, betreibt der Film genau die Angstmache, vor der er warnen will.

„Angst vor Krieg. Die Deutschen in der Zeitenwende“ läuft am Montag, 7. April, um 20.15 Uhr im Ersten.

Gesamten Artikel lesen