Der Baum, schrieb William Blake am Ende des 18. Jahrhunderts, der den einen zu Freudentränen rühre, sei für den anderen nur ein grünes Ding, das im Weg stehe. Die architektonische Moderne hatte Bäume in der Regel als grüne Dinger wahrgenommen, und so war es eine Überraschung, als 1998 am südwestfranzösischen Bassin von Arcachon ein junges Architektenteam ein Haus auf ein Grundstück stellte, das als unbebaubar galt – weil man die Pinien dort nicht absägen durfte.
Anne Lacaton und ihr Partner Jean-Philippe Vassal bauten also einen leichten, modernen Stahl- und Glasriegel um die Stämme herum – und schufen so einen Manifestbau für eine andere Architektur, die das Vorhandene im doppelten Wortsinn umbaut.
Ihre Bauten sind Manifeste für ein neues Bauen
Schon 1993 hatte das Duo die Maison Latapie entworfen, die ebenfalls ein programmatischer Bau war, ein einfaches Einfamilienhaus – aber auf der Gartenseite hatte das Architektenduo einen zweigeschossigen Wintergarten im Gewächshausstil angebaut, der die Wohnfläche gefühlt verdoppelte. Die Botschaft: Auch mit dem Gehalt eines Postboten kann man sich einen Palast leisten.
Billige Materialien aus dem Industriebau wie etwa Polykarbonat-Doppelstegplatten setzen die Architekten hier und bei ihren folgenden Projekten so geschickt ein, dass sie wie edler japanischer Minimalismus aussahen. Beide Häuser markierten die Themen, an denen entlang das Büro sich entwickelte: Ökologie und Soziales. Beides kam zusammen, als in Paris die Tour Bois-le-Prêtre, ein Sozialbauturm aus den sechziger Jahren, abgerissen werden sollte.

Lacaton und Vassal setzen durch, dass man ihn stehen ließ, sie nahmen nur die trostlose Fassade ab und ummantelten den Turm stattdessen mit einer luftig-verglasten zweiten Schicht von Wintergärten. Das Ergebnis war verblüffend: Plötzlich sah der Turm edel aus, die Wohnungen waren viel lichter, es gab mehr Platz, dazu fungierte der Wintergarten mit seinen dicken, metalldurchwirkten Gardinen auch als Dämmschicht.
Vor allem aber konnten die Bewohner, die zum Teil schon jahrzehntelang in dem Turm lebten, dort wohnen bleiben: Der Umbau war nicht nur klimafreundlich, sondern half auch dem sozialen Zusammenhalt. In Bordeaux sanierten Lacaton und Vassal später 530 Sozialbauwohnungen nach dem gleichen Rezept. In einer Zeit, in der man den Erfolg eines Architekten noch nach Masse des verwendeten Betons berechnete, wurden Lacaton und Vassal zu Pionieren einer ökologisch und sozial nachhaltigen Architektur, die ihnen 2021 den Pritzker-Preis einbrachte. An diesem Samstag wird Anne Lacaton siebzig Jahre alt.